Blog

Smartphone

Foto: Rodion Kutsaev / Unsplash.com

Handysucht: Gibt es das überhaupt?

10 September 2020

Lesezeit 7 Minuten

Am 1. September haben wir ein Webinar mit Prof. Dr. Christian Montag veranstaltet. Dr. Montag ist Professor für Molekulare Psychologie und einer der führenden Wissenschaftler in Deutschland, wenn es um das Thema Smartphone und Sucht geht. Das Webinar trug den Titel „Internet, Smartphone & Co.: Gibt es ein Zuviel?“. Folglich wurden nicht nur das Handy, sondern auch andere digitale Medien unter dem Fragezeichen der Sucht beleuchtet. In unserer Zusammenfassung des Webinars möchten wir uns jedoch auf das Smartphone und die Frage nach einer Handysucht konzentrieren.

Aktuell gibt es auf der Welt etwa 3,5 Milliarden Smartphone-Nutzer*innen. Das heißt, jeder zweite Mensch besitzt ein Smartphone, Kleinkinder und Senior*innen eingerechnet. Auch soziale Medien erfreuen sich starker Nutzungszahlen: Facebook verbucht 2,3 Milliarden, WhatsApp 2 Milliarden, Instagram 1 Milliarde und WeChat rund 1,2 Milliarden Nutzer*innen.

Das Smartphone verändert uns

Smartphones und soziale Medien verbinden Menschen miteinander – selbst über große Entfernungen hinweg. Sie scheinen jedoch auch eine dunkle Seite zu haben, die uns alle betrifft: In Bus und Bahn starren wir nur zu gerne pausenlos auf unsere Displays, statt unseren Blick und unsere Gedanken einfach mal schweifen zu lassen. Schöne Momente halten wir schnell mit der Handykamerafest (und posten sie vielleicht direkt noch), statt den Moment zu genießen (Carpe Diem!). In Deutschland gibt es mittlerweile die ersten Smombie-Ampeln, weil wir unseren Blick auch im Straßenverkehr nicht vom Smartphone lassen können. Das sind nur drei Beispiele von Prof. Dr. Montag, wie das smarte Mobiltelefon unseren Alltag und unsere Gesellschaft verändert.

Warum fasziniert uns dieses kleine technische Gerät so sehr? Prof. Dr. Montag sieht eine Ursache im Datengeschäftsmodell der Social Media- und App-Anbieter*innen. Diese halten uns mit psychologischen Tricks, wie beispielsweise Designelementen, die auf sozialen Vergleich abzielen oder sozialen Druck erzeugen, möglichst lange auf ihren Plattformen. Je länger wir die Online-Angebote nutzen, desto mehr Daten können die großen Tech-Konzerne von uns sammeln. Je mehr Daten sie von uns haben, desto wertvoller sind wir dann für deren Werbepartner*innen. Die Nutzung der Apps bezahlen wir also nicht mit Geld, sondern mit unseren Daten. Falls Du Dich hierzu tiefer informieren möchtest, lauten die Stichworte Überwachungskapitalismus und Aufmerksamkeitsökonomie.

Frau steht mit dem Rücken zu uns. Im Hintergrund rauchen Einsen und Nullen an ihr vorbei.

Foto: geralt / pixabay.com

Handysucht? Über das Suchtpotential eines Smartphones

Um so viele Daten wie möglich zu bekommen, wollen die Anbieter*innen, dass wir möglichst viel Zeit mit ihren Angeboten verbringen. Die psychologischen Tricks appellieren daher auch an unser Belohnungssystem im Gehirn, das bei der Entstehung einer Sucht eine tragende Rolle spielt, erklärt Prof. Dr. Montag.

Nicht alle Apps sind jedoch in gleicher Weise suchtfördernd. Eine Untersuchung des Psychologen deutet darauf hin, dass beispielsweise Smartphones, WhatsApp und Instagram „süchtiger“ machen als Facebook und Snapchat. Allerdings gibt Prof. Dr. Monatg zu bedenken, dass das Smartphone lediglich als Medium für Inhalte wie Instagram und Snapchat fungiert. Er verdeutlicht das mit einer Metapher:

Alkoholabhängige sind auch nicht süchtig nach der Flasche, sondern nach ihrem Inhalt.

Gibt es also überhaupt eine Smartphonesucht? Oder wäre das Telefon ohne Apps und ohne Internet komplett harmlos in Bezug auf sein Suchtpotential? Müssen wir uns vielmehr darauf konzentrieren, welche Apps Menschen mit einem problematischen Handyverhalten nutzen?

Handysucht oder Internetsucht: Gibt es das?

Handysucht oder Internetsucht gibt es zumindest als Krankheitsdiagnose offiziell (noch) nicht. In der Forschung wird daher bevorzugt von „problematischer Nutzung“ oder „internetbezogenen Störungen“ gesprochen. Eine verwandte Suchterkrankung hat es jedoch bereits in den internationalen Diagnosekatalog ICD-11 geschafft: Die Gaming Disorder (= Computerspiel-Störung). Ob sich die Kriterien der Gaming Disorder auf andere Bereiche der internetbezogenen Störungen übertragen lassen, ist Gegenstand aktueller Forschung.

Game Over Schriftzug

Foto: Saskia Rößner / webcare+

Grundsätzlich weist Prof. Dr. Christian Montag darauf hin, dass es wichtig ist, Alltagshandlungen nicht vorschnell zu pathologisieren. Für eine Psychopathologie muss immer auch ein notwendiger Schweregrad an Beeinträchtigungen im Alltag beobachtet werden (bei der Gaming Disorder beispielsweise das Verlieren des Ausbildungsplatzes aufgrund einer exzessiven Gaming-Aktivität).

Um die Forschungsbestrebungen im Feld ein wenig zu sortieren, schlägt er das folgende Modell für eine Ordnung internetbezogener Störungen vor. Dem Smartphone als häufig genutztes Endgerät kommt nach diesem Modell kein eigenes Störungsbild zu. Es könnte jedoch als mobile Form der internetbezogenen Störungen verstanden werden. Ein problematischer Smartphone-Gebrauch wäre demnach eher auf die mobile Nutzung sozialer Medien, Mobile Games und / oder anderer Inhalte zurückzuführen.

Schaubild: Modell der Internet Use Disorder

Grafik: Inhalt von Prof. Dr. Montag, Gestaltung von webcare+

Auch ohne Handysucht: Das Smartphone dominiert unseren Alltag

Durch unser Smartphone sind wir potentiell immer online, immer erreichbar. Egal ob beim Schlafen, während der Arbeit oder in der Freizeit: Es ist immer in unserer Nähe, häufig sogar im Sichtfeld. Anhand nicht repräsentativer Daten illustriert Prof. Dr. Montag mit einer vereinfachten Rechnung, dass Studienteilnehmende in etwa alle 18 Minuten nach ihrem Smartphone greifen – manchmal nur, um kurz den Sperrbildschirm auf Uhrzeit oder Nachrichtensymbolen zu überprüfen.

Diese vielen kleinen Unterbrechungen unseres Alltags sorgen dafür, dass konzentriertes Lernen (Deep Learning) oder Arbeiten (Work Flow) nahezu unmöglich sind. Auch unser Schlaf kann unter unserer Smartphonenutzung leiden, wenn wir beispielsweise nach Feierabend oder vor dem Schlafengehen noch lange E-Mails lesen und beantworten. Durch die Fragmentierung des Alltags wird unsere Produktivität reduziert, warnt Prof. Dr. Montag.

Dieses Smartphone-Verhalten wieder zu ändern, ist allerdings gar nicht so leicht. Der Griff zum Handy ist für uns zur Routine geworden, vor allem in Momenten der Langeweile. Prof. Dr. Montag nennt das den Smartphone-Reflex. Nichtstun oder Gedanken schweifen lassen, das verlernen wir zunehmend. Dabei kann Nichtstun ein Kreativitäts-Inkubator sein, so Prof. Dr. Montag.

Mann auf einer Bank starrt auf sein Handy

Foto: Courtney Clayton / Unsplash.com

Um wieder zurück zu einer gesunden Smartphonenutzung zu finden, gibt Prof. Dr. Montag eine Reihe von Tipps, deren Effekt in wissenschaftlichen Studien beschrieben worden ist:

  • Armbanduhr und Wecker Uhrzeit-Check per Smartphone
  • E-Mails und Nachrichten sammeln und nur 1-2 Mal am Tag zu definierten Zeitpunkten lesen und beantworten (= Batching)
  • Beim Lernen/Arbeiten Handy in einen anderen Raum
  • Klare Absprachen in der Familie, z.B. kein Handy beim Abendessen (die Qualität der sozialen Interaktion leider durch das Phubbing)
  • Einfach mal Nichtstun (Mind-Wandering nachgehen)

Mehr zum Thema

Frau im Büro guckt auf ihr Handy Home Office: Wie gelingt Digitale Balance? Smartphone mit Kuss- und Herz-Emojis Swipe, Match, Love: Kann Online Dating süchtig machen?
Diesen Artikel Teilen auf:
Interessante Beiträge

Du hast Fragen oder Anregungen?

Schreib uns gerne eine Nachricht, wir helfen Dir weiter.