Gastbeitrag von Patrick Durner
„Home Office ist super! Ich spar mir den Arbeitsweg, kann länger schlafen und werde nicht ständig von Kolleg*innen gestört“. Solche Statements habe ich zu Beginn des Corona Shutdowns und der relativ kurzfristigen Umstellung vieler Unternehmen auf remote Working – also Arbeiten außerhalb des Firmengeländes – in sozialen Netzwerken gelesen und auch von Kunden gehört.
Und sicherlich bietet für viele Menschen das Arbeiten von zuhause eine Verbesserung der Arbeitssituation. Es sei denn, man hat kleine Kinder zuhause oder ist alleinstehend. Dann kann nämlich die Belastung auch enorm ansteigen. Home Office ist auf jeden Fall eine neue Art zu arbeiten. Ob es langfristig eher die Produktivität fördert oder psychischen Erkrankungen Vorschub leistet, bleibt abzuwarten.
Fürsorge von Vorgesetzten im Home Office erschwert
Ein Aspekt, der durch die Distanz zwischen den Teammitgliedern und Vorgesetzten deutlich schwerer fällt, ist Fürsorge. Wie soll eine Führungskraft merken, dass ein*e Mitarbeiter*in dabei ist, ein Problem zu entwickeln, wenn man sich gar nicht mehr von Angesicht zu Angesicht sieht? Allein an der Stimme herauszuhören, dass ein*e Mitarbeiter*in sich zum Negativen verändert, ist nahezu unmöglich. Noch dazu findet in vielen – vor allem größeren Firmen – keine Videokommunikation statt, da die Firmennetze mit den Datenmengen überfordert wären.
Was bleibt, ist das Vertrauen in die Selbstfürsorge der Mitarbeitenden. Vertrauen in die Fähigkeit, sich trotz Präsenz der Arbeit in den eigenen vier Wänden distanzieren zu können, um nicht am Ende täglich zwölf Stunden zu arbeiten. Vertrauen in die Fähigkeit, all den bunten und unterhaltsamen Ablenkungsfaktoren zuhause – wie sozialen Medien, Streaming-Diensten und digitalen Spielwelten – zu widerstehen.
Studien zufolge waren Smartphones bereits vor Corona für täglich ein bis zwei unproduktive Stunden am Arbeitsplatz verantwortlich. In der heimischen Umgebung bekommt nun niemand mehr mit, wie häufig und lange man sich in der Arbeitszeit mit privaten Dingen beschäftigt. Es können sich also unbemerkt problematische Mediennutzungsmuster entwickeln.
Verschmelzen von Arbeitszeit und Freizeit
Ein weiterer Faktor ist, dass im Home Office die Privatzeit und Dienstzeit nahezu völlig verschwimmen. Schnell noch eine Waschmaschine anwerfen und dann die saubere Wäsche aufhängen oder andere Haushaltstätigkeiten zwischendurch erledigen. Dafür macht man halt abends länger. Die große Gefahr besteht hier darin, dass völlig vergessen wird, auch mal eine Pause zu machen. Und zwar eine Pause zur Erholung. Eine Pause für sich selbst, bei der es nur um die eigenen Bedürfnisse geht.
Abends merkt man dann nicht selten, wie platt man ist. Und da die Couch ja zum Glück nicht weit ist, wird der Dienst-Laptop zugeklappt und der Fernseher eingeschalten. Problematisch wird das, wenn es außer Bildschirmen im Leben sonst nicht mehr viel gibt. Streaming-Dienste und Spiele-Plattformen haben im ersten Quartal 2020 Rekordzuwächse bei den Nutzerzahlen verzeichnen können. Digitale Medienangebote sind also in immer mehr Haushalten verfügbar. Und Verfügbarkeit macht Konsum, das ist bekannt.
Digital in Balance zu bleiben, wenn Kollegialität nur digital und viele der wichtigen eigenen „Tankstellen“ – wie zum Beispiel Kulturveranstaltungen oder Angebote von Vereinen – nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen, ist eine der großen Herausforderungen der aktuellen Situation.
Was ist eigentlich Digitale Balance?
Für uns ist digitale Balance die Nutzung der positiven Aspekte der digitalen Möglichkeiten, ohne dabei negative gesundheitliche, soziale oder leistungsbezogene Auswirkungen erdulden zu müssen. Heißt ein gesundes Maß für Mediennutzung zu finden, ohne dabei reale Bedürfnisse zu vernachlässigen. Dass die eigene Mediennutzung nicht mehr im Gleichgewicht ist, kann sich unter anderem an folgenden Anzeichen bemerkbar machen:
- Kopf-, Nacken- oder Schulterschmerzen
- Niedrige Schlafqualität
- Sehstörungen und Augenschmerzen
- Stimmungsschwankungen bis hin zur depressiven Verstimmung
- Ein wachsender Drang zur Mediennutzung
- Verringerte Fähigkeit, diesen Impulsen zu widerstehen
- Gesteigerte Prokrastination, also wichtige Aufgaben werden nicht erledigt, weil die Mediennutzung vorgezogen wird
- Einschränkung des Freizeitverhaltens auf Medienkonsum
- Weitere negative körperliche Auswirkungen aufgrund des Bewegungsmangels, wie beispielsweise Herz-Kreislauf-Probleme, Kurzatmigkeit, Übergewicht und ähnliches
- Zunehmende Konflikte in Familie, Freundeskreis und Schule/Arbeit aufgrund des Medienkonsums
Auf unseren Körper statt auf unser Smartphone hören
Es gibt also eine ganze Reihe an Signalen, die uns unser Körper, unsere Psyche und unser Umfeld senden. Digitale Balance bedeutet, rechtzeitig diese Signale wahrzunehmen und gegenzusteuern und nicht so lange zu warten, bis es zu einer großen Problematik geworden ist. Sich selbst gegenüber schonungslos ehrlich zu sein, ist ein Kunststück, das uns vor so viel Negativem bewahren könnte.
Leider fällt es uns deutlich leichter, uns eine negative Verhaltensweise schön zu reden und zu rechtfertigen. Und ich bin mir sicher, dass auch Dir sofort zahlreiche Rechtfertigungen einfallen, warum das Smartphone selbst im Schlafzimmer oder auf dem Klo dabei sein muss. Warum Du am Steuer eines Fahrzeugs das Smartphone nutzt, obwohl es verboten und sehr gefährlich ist. Oder warum Du auch beim Treffen mit Freund*innen, Familie oder Kolleg*innen die Hände nicht vom Smartphone lassen kannst.
Digitale Balance ist aber auch die bewusste Gestaltung des Medienkonsums, so dass es gar nicht zu den obenstehenden Auswirkungen kommt.
Wege zur guten digitalen Balance
Digitale Balance ist DIE Fähigkeit, um in volldigitalisierten Zeiten gesund zu bleiben. Dafür braucht es erstmal die intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Medienkonsum in fünf Schritten:
- Wahrnehmen, in welchen Situationen die eigene Mediennutzung als störend, unangemessen, belastend oder gar gefährlich wahrgenommen oder von anderen rückgemeldet wird
- Analysieren, warum dennoch Mediennutzung stattfindet (zum Beispiel Faulheit, kurzer Dopamin-Schub, Wunsch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung)
- Entwicklung einer Zielvorstellung, in welchen Situationen künftig weniger Medien konsumiert werden sollen
- Beschaffung/Einrichtung von hilfreichen Maßnahmen, wie beispielsweise die Anschaffung eines Weckers/einer Armbanduhr; die Installation hilfreicher Apps zur Kontrolle und Beschränkung der Medienzeiten; Festlegung medienfreier Zeiten; Finden guter Alternativen für die Bedürfnisse in Schritt 2, also Maßnahmen zur langfristigen Zufriedenheit statt kurzem Dopamin-Schub
- Kontrolle und Anpassung der Maßnahmen bis ein zufriedenstellender Zustand erreicht ist
Bei Bedarf kannst Du auch externe Unterstützungsmöglichkeiten wie Beratung, Coaching oder Seminare zum Thema Digitale Balance nutzen. Beratungsstellen findest Du zum Beispiel hier.
Tipps für digitale Balance im Home Office
- Digitalfreie Morgenrituale, um erstmal Körper und Geist hochzufahren, bevor die Technik hochgefahren wird
- Konsequente Pausenkultur mit wirklich erholsamen Tätigkeiten, zum Beispiel eine Runde spazieren gehen, anstatt Haushalt zu machen; bewusst nach draußen gehen und in die Ferne schauen, statt Unterhaltungsmedien zu nutzen
- Feste Feierabendzeiten und -rituale. Beispielsweise sich umziehen, sich falls vorhanden von Partner*in oder Mitbewohner*in abholen lassen
- Aktive und abwechslungsreiche Freizeitgestaltung zur Vermeidung einer gewohnheitsmäßigen täglichen Mediennutzung
- Raus in die Natur! Die Farbe Grün wirkt als Stresskiller (täglich mindestens 30 Minuten Bewegung an der frischen Luft kann das Risiko, an einer Depression zu erkranken, enorm verringern)
- Möglichkeiten der Achtsamkeit in den Alltag integrieren (bewusst im hier und jetzt zu sein, ohne Ablenkung durch digitale Medien, verbessert die Lebensqualität und -zufriedenheit langfristig messbar); eventuell auch als App (z.B. 7Mind oder Headspace)
- Privates Smartphone in der Arbeitszeit lautlos und außer Sichtweite, das ermöglicht ablenkungsfreie und hochkonzentrierte Arbeit
- Pflege der Kollegialität wenn möglich und erlaubt mit persönlichen Treffen; falls nicht, Zeit für Video-Calls nehmen, anstatt nur zu schreiben
- Multitasking vermeiden, besser eine Aufgabe konsequent zu Ende bringen, dann eine kurze Pause machen und danach mit der nächsten Aufgabe beginnen (nebenbei Serien streamen oder Computerspiele spielen vermindert in aller Regel die Arbeitsqualität. Wenn vollständige Stille als unangenehm empfunden wird, kann leise Instrumentalmusik konzentrationsfördernd sein)
Kontakt zu Gastautor Patrick Durner
- Website Betriebliche Suchtprävention
- E-Learning Digitale Balance
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