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Viele bunte Regenschirme

Foto: Ricardo Resende/Unsplash.com

Aktiv gegen Mediensucht e.V.: Online-Selbsthilfegruppen und mehr

30 Oktober 2023

Lesezeit 7 Minuten

Bei webcare+ gab es vor einigen Jahren mal Online-Selbsthilfegruppen, doch die Zeit schien dafür noch nicht reif zu sein. Durch die Pandemie sind Videochats für viele Menschen zu etwas Alltäglichem geworden. Der Verein Aktiv gegen Mediensucht e.V. hat aktuell gleich drei Online-Selbsthilfegruppen unter seinem Dach. Doch nicht nur das, er bietet noch eine ganze Menge mehr für Menschen mit problematischer Mediennutzung und ihre Angehörigen. Wir haben den Vorstandvorsitzenden Ronald Stolz interviewt.

Saskia Rößner: Ronald, danke dass Du uns deinen Verein vorstellst. Bevor wir zu ihm kommen, erzähl uns doch bitte erstmal ein bisschen über dich.

Ronald Stolz: Ich bin 42 Jahre alt und war selbst von Computersucht beziehungsweise Mediensucht betroffen. Meine Problematik war vielseitig. Eine dieser Seiten möchte ich hier offenlegen und mit Dir teilen, damit Du weißt, mit wem Du es zu tun hast.

Ich bin ein ehemaliger Gamer, der wieder einen Weg zurück in die reale Welt gefunden hat. Begleitet wurde ich hierbei von Geldsorgen, familiären Problemen, Auseinandersetzungen mit dem Lebenspartner, Einsamkeit und Depressionen, Verlust von Freundschaften in der realen Welt und der strengen Arbeitswelt. Auch das Smartphone spielte bei mir eine große Rolle im Zusammenhang mit dem Onlinerollenspiel. Ich musste immer und überall up to date sein, immer die Kontrolle behalten, egal wo ich war, und wenn es auf dem Klo war.

Damit Du Dir das Ausmaß einmal anhand von Zahlen vorstellen kannst, hier ein kleines Beispiel: Einer meiner Charaktere aus dem Spiel World of Warcraft heißt „Rollroll“. Allein mit ihm habe ich 276 Spieltage verbracht, das sind umgerechnet 6.624 Spielstunden oder 397.440 Spielminuten. So viel Zeit habe ich allein mit einem einzelnen Charakter verbracht und ich habe noch einige andere Charaktere. Rollroll ist nur ein Charakter von vielen. In diesen 397.440 Minuten war ich in einer anderen Welt. Die Lebenszeit habe ich verpasst. Die Smartphone-Zeit ist da noch nicht mal miteingerechnet.

Insgesamt ging das bei mir 10 Jahre lang so. Rückblickend gesehen war das eine wirklich krasse Zeit. Den Weg in das Onlinerollenspiel und wieder hinaus möchte ich gern persönlich mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen teilen.

Bunte Gamer-Tastatur

Foto: Juan Gomez/Unsplash.com

Nur noch im Computerspiel leben

Saskia Rößner: Deswegen engagierst Du dich bei Aktiv gegen Mediensucht e.V.; wer steckt denn sonst noch so hinter dem Verein?

Ronald Stolz: Christoph Hirte hat den Verein 2008 aus einer ähnlich bitteren Erfahrung gegründet. Zu dieser Zeit war Mediensucht ein noch eher unbekanntes Phänomen. Es war völlig neu, dass die damals aufkommenden Onlinerollenspiele Menschen so in ihren Bann ziehen können. Es war unvorstellbar, dass sie ihr Leben außerhalb des Spiels derart vernachlässigen, das Studium oder die Arbeit abbrechen, Freundschaften aufgeben, für die Umwelt einfach verschwinden und nur noch im Computerspiel „leben“.

Das Anliegen von Christoph Hirte waren Information und Aufklärung. Er hat schnell erkannt, dass die Familie mit Ihrem Schicksal nicht alleine war. Eine Vielzahl von Menschen meldete sich und berichtete von ähnlichen Erfahrungen. Es entstanden Selbsthilfegruppen für Eltern sowie Beratung für Betroffene und Ausstiegswillige. Insbesondere die Aufklärungsarbeit und der Kontakt mit Medien brachte das Thema Schritt für Schritt in das Bewusstsein von Politik und Bevölkerung.

Das Ehepaar Hirte war viel unterwegs, informierte bei Elternabenden sowie in Schulklassen. Sie betrieben auch die Internetseiten rollenspielsucht.de (existiert nicht mehr) sowie aktiv-gegen-mediensucht.de. Insbesondere die Beratung und Hilfe über diese Seiten und das mit großem Erfolg betriebene Forum waren ihnen ein großes Anliegen. Der von ihnen gegründete Verein war und ist Plattform für Betroffene und an dem Thema interessierten Menschen.

Aktiv gegen Mediensucht: Hilfsangebot und Unterstützung müssen weiter gehen

Ronald Stolz: Der Tod von Christoph Hirte im Jahr 2018 war für den Verein und für die Menschen in seiner Umgebung ein sehr schwerer Verlust. Für die Vereinsmitglieder war jedoch klar, die Hilfsangebote und die Unterstützung müssen weitergehen, der Verein darf sich nicht auflösen. Nach einer Zeit der Neuorientierung mit vielen rechtlichen und technischen Problemen ist der Verein nun wieder präsenter Ansprechpartner für Betroffene, Angehörige und Interessierte.

Seit 2019 engagiere ich mich in der Selbsthilfe. 2021 habe ich den Verein Aktiv gegen Mediensucht als Vorstand übernommen. Die Zwecke des Vereins decken sich 1 zu 1 mit meiner Vision. Die Anzahl unserer Mitglieder wächst monatlich. Die Selbsthilfeangebote werden mittlerweile deutschlandweit und auch online ausgebaut, gefolgt von vielen Projekten in der Selbsthilfe und Aufklärung.

Glücklicherweise haben wir tolle Kooperationspartner mit im Boot: Der Caritasverband für die Diözese Augsburg e.V., vertreten durch Niels Pruin, und das Landshuter Netzwerk e.V., vertreten durch Jürgen Handschuch. Beide stehen uns als Ansprechpartner*innen und Hilfeleistende zur Seite. Dank zusätzlicher Unterstützung durch die Deutsche Rentenversicherung Bayern Süd können wir nun auch mit neuen Schwung in der Öffentlichkeit auftreten.

Weißer Regenschirm wird mit bunter farbe beworfen

Foto: Divya Agrawal/Unsplash.com

Information, Austausch und Unterstützung

Saskia Rößner: Was genau bietet euer Verein denn an?

Ronald Stolz: Sehr viel, auch niedrigschwellige Angebote: Da sind zunächst einmal unsere Selbsthilfegruppen im Online- und Präsenzformat für Betroffene und Angehörige.

Wir unterstützen Menschen auch bei der Gründung neuer Selbsthilfegruppen, veranstalten einen regelmäßigen Arbeitskreis für Selbsthilfegruppenleiter*innen und helfen Selbsthilfegruppen beim Thema Inklusion. Referent*innen zu finden, Onlinevorträge oder andere Austauschmöglichkeiten zu organisieren, gehört ebenfalls zu unseren Aufgaben.

Betroffene und Angehörige unterstützen wir dabei, eine passende Hilfeeinrichtungen zu finden. Dank unseres breiten Hilfe-Netzwerks in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind wir dafür gut aufgestellt. Mit Hilfe von Christian Montag von der Uni Ulm haben wir zudem eine App entwickelt, mit der man einen Mediensucht-Selbsttest machen kann.

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Wir helfen mit, Therapien und Aufklärungsprojekte zu entwickeln, sind auf Präventionsveranstaltungen, Messen, Selbsthilfetagen und bei verschiedenen Arbeitskreisen in der Suchthilfe vertreten. Immer up to date zu bleiben, wichtige Neuigkeiten oder Buchempfehlungen weiterzuleiten, ist ein weiteres unserer Anliegen.

Selbsthilfegruppen von Aktiv gegen Mediensucht

Saskia Rößner: Welche Selbsthilfegruppen gibt es aktuell bei euch?

Ronald Stolz: Zurzeit versammeln wir zehn Selbsthilfegruppen unter unserem Dach, davon drei Onlinegruppen. An den Gruppentreffen darf jeder teilnehmen. Wer Interesse daran hat, kann sich einfach telefonisch (Telefonnr. 08337-3420742) oder per Mail (info@aktiv-gegen-mediensucht.de) bei uns melden.

Unsere Selbsthilfegruppen:

Eine aktuelle Übersicht unserer Selbsthilfegruppen finden Interessierte jederzeit auf unserer Website.

Mensch mit buntem Regenschirm steht im Schnee

Foto: Anastasia Yilmaz/Unsplash.com

Selbsthilfe wirkt!

Saskia Rößner: Was würdest Du sagen, welchen Mehrwert Selbsthilfe bei Mediensucht hat?

Ronald Stolz: Selbsthilfe wirkt auf viele Weisen. Zum einen kannst du deine Probleme in einem geschützten Raum teilen. Man sagt ja immer so schön: „Geteiltes Leid ist halbes Leid“. In einer Selbsthilfegruppe hast Du die Möglichkeit, nicht mehr mit deinen Problemen allein zu sein. Die Menschen in der Selbsthilfegruppe haben alle das gleich Thema, auch wenn die Geschichten dazu unterschiedlich sein können. Sich über die eigenen Probleme auszutauschen, kann sehr hilfreich sein. Statt dich allein zu fühlen, kannst Du hier Anschluss finden, egal ob in der Gruppe oder in einem persönlichen Gespräch. Du hast hier in den Gruppen auch die Möglichkeit, dich selbst einzubringen und anderen zu helfen – wenn Du das willst.

In unseren Selbsthilfegruppen geht es allerdings um mehr, als nur über Probleme zu reden. Wir wollen uns von unserem Suchtverhalten befreien und einen bewussten Umgang mit Medien wiederfinden. Mut für den Alltag sammeln, unser Selbstbewusstsein stärken, gemeinsam Wege und Lösungen suchen und neue Hoffnung finden, gehört ebenfalls zu unseren Zielen.

In der Selbsthilfegruppe hast Du immer die Möglichkeit, up to date zu sein. Aktiv gegen Mediensucht lädt immer wieder Referent*innen in die Selbsthilfegruppen ein, die unsere Problematik professionell erklären. Weißt Du mal nicht weiter, dann können wir dir auch dabei helfen, eine*n professionelle*n Ansprechpartner*in oder die richtige Beratungsstelle zu finden.

Du siehst also, dass Selbsthilfegruppen genauso vielseitig wie ihre Mitglieder sein können.

S – Sicherheit
e – Ehrgeiz
l – Lust
b – Bewegung
s – Stolz
t – Therapie
h – Hilfe
i – Information
l – Lebensmut
f – Frieden
e – Erleben

Saskia Rößner: Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, unsere Fragen zu beantworten, Ronald!

Ronald Stolz: Danke auch dir, Saskia!

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