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Foto: Kamil S. / Unsplash.com

Kritisch und kreativ: Digitale Spiele pädagogisch nutzen

12 November 2020

Lesezeit 8 Minuten

Problematisches Computerspielen stellt Eltern und pädagogische Fachkräfte immer wieder vor Herausforderungen. Wie sollen wir damit umgehen? Wie können wir dem vorbeugen? Und wie können wir vielleicht sogar digitale Spiele pädagogisch nutzen?

Wir haben Sarah Weber und Stefan Berendes von der LAG Jugend & Film Niedersachsen e.V. interviewt. Sie sind Veranstalterin der Game Days, die Games kritisch und kreativ bearbeiten. Sarah Weber ist staatl. anerkannte Erzieherin, Sozialarbeiterin und Projektleiterin der Game Days. Außerdem ist sie medienpädagogische Referentin in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Hauptberuflich arbeitet sie in der stationären Jugendhilfe. Stefan Berendes ist Vorstandsmitglied der LAG Jugend & Film Niedersachsen e.V. und außerdem als medienpädagogischer Referent für verschiedene Institutionen tätig, darunter die Niedersächsische Landesmedienanstalt und die Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen.

Computerspielsucht: Was können Pädagog*innen tun?

Saskia Rößner: Frau Weber, sie kommen aus der Kinder- und Jugendarbeit. Vor welchen Herausforderungen stehen Erzieher*innen, Lehrkräfte und andere Pädagog*innen, wenn es um problematisches Computerspielen geht?

Sarah Weber: Eine Herausforderung ist die Vielfalt an digitalen Spielen, die wir aktuell auf dem Markt finden. Games sind auf sämtlichen Endgeräten zu finden, sei es die klassische Konsole, der PC oder das Smartphone. Vor allem das Smartphone findet seit geraumer Zeit seinen Platz in der digitalen Spielewelt. Für Fachkräfte ist es eine Hürde, sich in diesem Dschungel einen Überblick zu verschaffen, denn der Spielemarkt wächst permanent. Ich arbeite in der stationären Jugendhilfe und bin neben meiner hauptberuflichen Tätigkeit als medienpädagogische Referentin in der offenen Kinder- und Jugendarbeit tätig. Dort berate ich Fachkräfte oder biete Workshops an, die sich auf kreative Art und Weise mit digitalen Spielen beschäftigen. Obwohl ich mit digitalen Spielen aufgewachsen bin, fällt es auch mir manchmal schwer, den Überblick zu behalten.

Fortnite

Foto: Vlad Gorshkov / Unsplash.com

Ich erlebe teilweise eine Unvoreingenommenheit von Kindern und Jugendlichen gegenüber den digitalen Spielen: Die Spiele werden heruntergeladen, Filterfunktionen werden wenig genutzt und es passiert vieles im Hintergrund, was Erwachsene gar nicht mitbekommen, zum Beispiel in Online-Spielewelten. Es entsteht ein anderes Möglichkeitspotenzial, Kinder und Jugendliche versinken mitunter in dieser Welt. Ich erlebe, dass es ihnen manchmal schwer fällt, das richtige Maß zu finden. Und das ist gar nicht ungewöhnlich: Ich kenne selbst die Faszination, in virtuelle Welten einzutauchen. Warum soll ich aufhören, wenn es doch gerade so einen Spaß macht? Und viele Fachkräfte fragen deswegen mit Recht: Was ist das richtige Maß?

Die Spieleentwickler*innen gehen dabei geschickt vor. Spiele werden so konzipiert, dass eine Beendigung des Spielens schwerfällt. Kinder und Jugendliche brauchen hier die notwendige Unterstützung, um sensibilisiert zu werden. Und hier sind die Fachkräfte gefordert, denn auch sie sollten sich mit dem Medium beschäftigen. Die Welt der Heranwachsenden und die der Erwachsenen müssen sich begegnen. Es muss ein Raum geschaffen werden, wo Kinder und Jugendliche ihre Fragen stellen und auch die riskante Seite des Spielens kennen lernen können. Eine Beobachtung, die ich immer wieder mache, ist die Ausgestaltung von Freizeit. Es fällt Kindern und Jugendlichen schwerer, ihre Freizeit medienfrei zu gestalten.

Fachkräfte müssen also einerseits medienfreie Räume schaffen, andererseits aber auch in Beziehung gehen und ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Medien heutzutage ein Bestandteil der Lebenswelten von Heranwachsenden sind – ein Balanceakt, sozusagen.

Computerspielsucht: Was können Eltern tun?

Saskia Rößner: Herr Berendes, Sie sind Eltern-Medien-Trainer. Was bedeutet problematisches Spielen für Eltern? Wie können sie sich in so einer Situation verantwortungsvoll verhalten?

Stefan Berendes: Games können an mehreren Stellen problematisch werden: Auf der inhaltlichen Ebene, wenn sich Kinder konsequent mit Spielen beschäftigen, die aufgrund ihrer Inhalte und ihrer Mechanismen eigentlich nicht für sie geeignet sind und sie überfordern. Und auf der Verhaltensebene, wenn Kinder einfach zu viel digital spielen und Games andere wichtige Dinge verdrängen. Oder wenn die Erfolgserlebnisse, die Games ja sehr gut vermitteln, zum einzigen Erfolgserlebnis werden. In all diesen Fällen werden Games auch häufig zum Reizthema in der Familie, und Eltern stehen dann unter dem Druck, reagieren zu müssen.

Kind spielt Videospiel

Foto: Sigmund / Unsplash.com

Ich finde aber, dass Eltern sich schon viel früher mit dem Thema Games und dem Spielverhalten ihrer Kinder beschäftigen sollten – lange, bevor es ein Problem gibt. Und eigentlich auch, ohne dass es ein Problem geben muss. Also mit ihren Kindern das Gespräch suchen: Was spielen die Kinder? Was mögen sie daran? Welche Medien um die eigentlichen Spiele herum – also Let’s Play Videos, Livestreams, eSport-Events – verfolgen sie?

Die Eltern sollten hier einfach auf dem Laufenden bleiben über die Interessen der Kinder. Wenn ich meinem Kind vermittle, dass ich mich für das interessiere, was es da tut, dann wird es mir auch erzählen, oder sogar zeigen, in welchen Medienwelten es sich bewegt. Und ich kann mir dann einerseits einen eigenen Eindruck machen und mir andererseits auch zielgerichtet zusätzliche Informationen beschaffen, zum Beispiel bei Plattformen wie dem Spieleratgeber NRW oder spielbar.de. Und dann entsprechend fundierte Entscheidungen treffen. Wenn ich mich schon „in Friedenszeiten“ mit dem Thema befasst habe, gerate ich dabei auch weniger schnell unter Entscheidungs- und Handlungsdruck.

Eltern können und dürfen natürlich auch Grenzen setzen, etwa indem sie in der Familie klare Absprachen treffen, etwa zu Spiel- und Medienzeiten. Wenn man sich mit dem Thema vorab beschäftigt und im Gespräch bleibt, sorgt das auch dafür, dass man Lösungen und Absprachen findet, die den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden. Und, fast noch wichtiger, dass die Kinder sehen: Meine Eltern interessieren sich für mich und meine Bedürfnisse. Dann kann ich mich ihnen auch anvertrauen, wenn es Probleme gibt.

Mit Computerspielen gegen die Computerspielsucht?

Saskia Rößner: Etwa die Hälfte der Bevölkerung spielt Videospiele. Jedoch nur ein kleiner Prozentsatz entwickelt ein problematisches oder krankhaftes Spielverhalten. Allerdings: Für diese Menschen und ihre Angehörigen kann das schlimme Folgen haben. Wie könnten Games präventiv genutzt werden, um Kinder und Jugendliche für dieses Risiko zu sensibilisieren?

Sarah Weber: Spannende Frage! Games erfahren oft noch eine gewisse Geringschätzung, obwohl ich auch eine Veränderung beobachte. Fachkräfte wollen das Medium in die pädagogische Arbeit integrieren, aber das Wie ist manchmal noch die Frage. Mittlerweile gibt es viele Initiativen, die digitale Spiele konstruktiv in verschiedenen Formaten in der pädagogische Arbeit nutzen und Kindern und Jugendlichen zeigen, dass es nicht ausschließlich um das reine Konsumieren geht, sondern viel mehr möglich ist. Ein zentraler Punkt ist weiterhin die Aufklärung. Mit Kindern und Jugendlichen in den Dialog zu gehen und sich über riskanten Medienkonsum zu unterhalten, Interesse und Neugierde zu zeigen, sind wichtige Elemente des pädagogischen Arbeitens.

Game Over

Foto: Saskia Rößner / webcare+

Digitale Spiele pädagogisch nutzen

Saskia Rößner: Welche medienpädagogischen Einsatzgebiete sehen Sie darüber hinaus für Computerspiele?

Sarah Weber: Als Beispiel sei die offene Kinder- und Jugendarbeit genannt. Die Kinder- und Jugendarbeit schafft einen Raum, in dem Heranwachsende unter pädagogischer Anleitung ohne Leistungsverpflichtung zocken können und dabei nicht allein sind. Ich sehe auch die Schule als einen besonderen Einsatzort. Auch dort ist die Integration digitaler Spiele vorstellbar und wird in Projektformaten bereits umgesetzt.

Stefan Berendes: Digitale Spiele können Geschichten häufig besonders packend erzählen, gerade weil man in ihnen meist handelnde Person ist und nicht nur Zuschauer*in. Das bedeutet, dass sie sich als Medium auch hervorragend dazu eignen, Themen anschaulich zu illustrieren. Hier seien beispielsweise Serious Games und Newsgames genannt, die sich ernsthaften Themen aus Politik, Gesellschaft und Zeitgeschichte widmen. Das klingt erst mal nicht unbedingt nach Spaß. Aber wenn sie gut gemacht sind, dann sorgen diese Spiele für einen anderen Zugang zu Themen. Oder sie machen Situationen spiel- und damit erfahrbar. Damit könnten sie eine wertvolle Ergänzung in Lehr-und Lernkontexten sein.

Und es ist wichtig, die Spielenden auch mal aus der bloßen Konsumhaltung rauszuholen und auszuprobieren, wie man selbst kreativ sein und eigene kleinere und größere Game-Projekte entwickeln kann. Deshalb sehen wir gerade im medienpraktischen Bereich ein starkes Potenzial, auch für die Reflexion von Games. Wenn ich selbst ein Spiel gestalte, muss ich selbst aktiv und kreativ werden. Und ich bekomme auch einen analytischeren Blick auf die Mechanismen, die in Spielen am Werk sind – auch in denen, die ich in meiner Freizeit spiele.

Game Days: Computerspiele kreativ und kritisch betrachten

Saskia Rößner: Die LAG ist Veranstalterin der Game Days. Was können wir uns darunter vorstellen?

Stefan Berendes: Die LAG Jugend & Film Niedersachsen kommt – der Name lässt es vermuten – aus der klassischen Filmarbeit mit Jugendlichen. Also Filme anschauen und reflektieren, aber eben auch selbst Filme machen und nutzen, um eigene Geschichten zu erzählen. Heute stehen Jugendlichen aber noch viele andere Medientypen zur Verfügung: Social Media, Games und alle möglichen Crossover-Formate. Deshalb beschäftigt sich unser Verband jetzt immer mehr auch mit diesen neuen technischen und erzählerischen Möglichkeiten – aber eben so, dass immer beides eine Rolle spielt: Die Reflexion und das eigene Gestalten.

Die Game Days sind dabei ein Format, das versucht, die Vielschichtigkeit von Games abzubilden. Also einerseits das kreative, erzählerische oder auch einfach unterhaltende Potenzial dieses Mediums auszuleuchten, andererseits aber auch auf kritische Aspekte zu sprechen zu kommen. Und einen Raum zu schaffen für Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Eltern, Großeltern, Fachkräfte der Jugend-Medien-Arbeit und Pädagog*innen, in dem sie über Games ins Gespräch kommen, Games reflektieren oder sogar selbst gestalten können. Oder einfach nur einmal gemeinsam spielen.

Bislang haben wir die Game Days drei Mal durchgeführt – je einmal in Osnabrück und Göttingen als Präsenzveranstaltung und dieses Jahr – coronabedingt – als komplett digitale Veranstaltung. Und auch für 2021 ist eine nächste Auflage geplant.

Spielmenü

Foto: Fabian Albert / Unsplash.com

Exzessives Gaming bei den Game Days

Saskia Rößner: Inwieweit adressieren die Game Days Themen wie Gesundheit, exzessives Gaming und Computerspielsucht?

Sarah Weber:  Uns ist auch wichtig, das riskante Konsumieren digitaler Spiele zu beleuchten und Hinweise zu geben, worauf ich in meiner pädagogischen Arbeit achten muss, wenn ein riskanter Konsum vorliegt. Ich selbst habe mich, bedingt durch meine Ausbildung, lange mit dem Thema Sucht beschäftigt. Dies möchten wir auch durch die Game Days weiterhin verfolgen, und es wird auch im Jahr 2021 einen Platz in unserem Programm haben.

Es könnte beispielsweise ein Game Jam zum Thema Gesundheit stattfinden, wo Spiele entwickelt werden, die sich mit Gesundheitsthemen auseinandersetzen (auch Sucht). Mittlerweile existieren Spiele, die sich mit psychischen Erkrankungen beschäftigen. Uns ist es wichtig, dass bei unserer Veranstaltung auch dieser kritisch-reflektierende Bereich eine Rolle spielt.

Ein weiteres Thema, dem wir uns widmen möchten, ist inklusives Gaming, denn das Thema Barrierefreiheit gewinnt zunehmend an Bedeutung. Digitale Spiele sind oft so gestaltet, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung nur wenig an der virtuellen Welt teilnehmen können, es aber gerne möchten. Hier stehen wir in den Startlöchern für weitere Ideen.

Saskia Rößner: Vielen Dank für das spannende Interview und viel Erfolg bei den Game Days 2021!

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