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Insel auf einem Computerbildschirm. Auf der Insel steht ICD-11.

Foto: Boicu Andrei Unsplash.com

ICD-11: Computerspielsucht und Pornosucht seit 1.1.2022 offizielle Krankheitsdiagnose

13 Januar 2022

Lesezeit 7 Minuten

Ist die Abhängigkeit von Online-Angeboten eine Krankheit oder nicht? Ist sie ein eigenständiges Krankheitsbild oder nur Begleiterscheinung anderer Erkrankungen, wie beispielsweise Depression? Gibt es überhaupt DIE Internetsucht? Oder muss man zwischen der Sucht nach Videospielen, sozialen Medien, Pornos und Co unterscheiden? Gibt es so etwas wie Handysucht? Oder sind Betroffene eher abhängig von einzelnen Apps?

Über diese und ähnliche Fragen diskutieren Betroffene, Angehörige, Mediziner*innen und Wissenschaftler*innen seit Jahrzehnten. Und einig geworden sind sie sich bisher noch nicht, zumindest nicht in allen Punkten. Wozu der ganze Aufwand? Je besser eine Krankheit erforscht und verstanden wird, desto bessere Hilfe- und Therapiemöglichkeiten können entwickelt werden. Und: Nur anerkannte Krankheitsbilder dürfen von Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen offiziell auch behandelt und abgerechnet werden.

Die neue ICD-11

In diesem Sinne starten wir in das Jahr 2022 mit einer guten Nachricht für alle Betroffenen von Computerspielsucht oder Pornosucht und ihren Angehörigen. Auch ihre Therapeut*innen können aufatmen: Am 1. Januar ist nämlich die neue ICD-11 in Kraft getreten. ICD steht für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems” (englisch). Auf Deutsch ließe sich das vereinfacht übersetzen in „Internationale Klassifikation der Krankheiten“.

Zwölf Jahre hat die Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly, WHA) gebraucht, um die alte Klassifikation (ICD-10) zu überarbeiten, berichtet das Ärzteblatt. Auf der 72. Weltgesundheitsversammlung im Mai 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die neue ICD-11 verabschiedet.

In dieser Klassifikation sind alle Krankheiten aufgelistet, die es nach offizieller Ansicht der Weltgesundheitsversammlung (WHA) gibt. Und das sind eine ganze Menge: Die ICD-11 umfasst 55.000 Krankheiten, Symptome und Verletzungsursachen. Wenn wir krank werden und wir von unseren Ärzt*innen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder Überweisung zu anderen Ärzt*innen bekommen, ist auf dieser ein ICD-Code (oder mehrere) vermerkt. Das ist eine Kombination aus Zahlen und Buchstaben, die für ein einzelnes Krankheitsbild stehen.

Game Over Schriftzug

Foto: Saskia Rößner / webcare+

Riskantes und abhängiges Computerspielen in der ICD-11

Neu dabei sind unter anderem die Diagnosen „Gaming Disorder“ (Computerspielstörung oder abhängiges Computerspielen, ICD-11-Code 6C51) sowie „Hazardous Gaming“ (riskantes Computerspielen, ICD-11-Code QE22).

Eine Computerspielstörung liegt demnach dann vor, wenn über den Zeitraum von zwölf Monaten folgende Kriterien erfüllt sind:

  1. Kontrollverlust über das Spielverhalten
  2. Wachsende Bedeutung des Spielens über andere Interessen und Aktivitäten hinaus
  3. Weiterspielen trotz negativer Konsequenzen

Weiter heißt es in der ICD-11, die Videospiele könnten online sowie offline gespielt werden. Das Spielverhalten könne kontinuierlich oder episodisch und wiederkehrend sein. Es führe bei den Betroffenen zu „ausgeprägtem Stress oder erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen“.

Den Maßstab von zwölf Monaten schränkt die ICD-11 allerdings noch ein: Der Zeitraum könne verkürzt werden, wenn alle diagnostischen Voraussetzungen erfüllt und die Symptome besonders schwerwiegend seien.

Riskantes Computerspielen bezeichnet in Abgrenzung dazu ein Spielverhalten, das das Risiko schädlicher physischer oder psychischer Folgen für die spielende Person oder Personen in ihrem Umfeld merklich erhöht. Der Schaden könne hier beispielsweise verursacht werden durch die Spielhäufigkeit oder Spieldauer, der Vernachlässigung anderer Aktivitäten, Risiken im Spiel selbst (z.B. Cybergrooming in In-Game-Chats, Abzocke, Item-Diebstahl) oder in Zusammenhang mit seinem Kontext (z.B. Hate Speech in Spieleforen, gefährliche Nachahmungen im Real Life). Auch eine Kombination mehrerer dieser Ursachen deckt die ICD-11-Diagnose ab. Das Spielverhalten bleibe zudem oft bestehen, obwohl sich Betroffene des erhöhten Risikos eines Schadens für sich selbst oder andere bewusst seien.

halboffener Laptop

Foto: _evstratov_ / Unsplash.com

Zwanghaftes Sexualverhalten und Pornosucht in der ICD-11

Neu in der der ICD-11 ist auch die Diagnose zwanghaftes Sexualverhalten (ICD-11-Code 6C72). Diese könne unter anderem übermäßiger Pornokonsum oder Telefonsex beinhalten, schreibt das Ärzteblatt. Die Diagnose sei dann angebracht, „wenn Betroffene intensive, wiederkehrende Sexualimpulse über längere Zeiträume nicht kontrollieren können und dies ihr Familien- oder Arbeitsleben oder das Sozialverhalten beeinflusst“. Aber was bedeutet das genau?

Im November 2021 haben wir Prof. Dr. Rudolf Stark von der Uni Gießen interviewt. Er forscht zu Pornosucht und hat uns erklärt:

„Eine Pornografie-Sucht oder Pornografie-Nutzungsstörung, wie sie auch genannt wird, liegt dann vor, wenn Betroffene ihre Pornografie-Nutzung fortsetzen, obwohl sie eigentlich ihren Konsum reduzieren oder einstellen wollen. Die Nutzung von Pornografie nimmt immer mehr Zeit in Anspruch, wobei bisherige andere Interessen an Bedeutung verlieren. Der Konsum führt zu negativen Konsequenzen. Das können Konzentrationsstörungen, Konflikte in Partnerschaften, Müdigkeit am Arbeitsplatz und ähnliches sein. Dadurch kommt es zu Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen, die seit 6 Monaten bestehen müssen.“

Das komplette Interview mit Prof. Dr. Stark kannst Du hier nachlesen.

Bedeutung der ICD-11 für Betroffene und Helfende

Was konnten Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen bisher tun, wenn sie Patient*innen mit den Symptomen einer Computerspielsucht oder Pornosucht hatten, diese aber noch nicht im ICD-10 aufgelistet waren? Viele sind auf alternative, aber eher schwammige Diagnosen ausgewichen, wie beispielsweise „Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“ (ICD-10-Code F63.8) oder „Sonstige näher bezeichnete Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ (ICD-10-Code F68.8), erklärt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS). Die DHS begrüßt die Neuerungen im ICD-11: „Durch die Einführung einer Diagnose der Computerspielstörung (Gaming Disorder) entsteht für Betroffene mit einem Behandlungsbedarf somit ein Behandlungsanspruch.“

Frau mit Controller

Foto: Anton Shuvalov / Unsplash.com

Auch der Fachverband Medienabhängigkeit äußert sich positiv über die ICD-11: „Dies bedeutet, dass Computerspielsucht (als „Gaming Disorder“) nun tatsächlich als diagnostizierbares Störungsbild und somit als Erkrankung anerkannt ist. Das ist in erster Linie ein großer Erfolg für Betroffene und deren Angehörige, für die hiermit eine Grundlage zur besseren Versorgung geschaffen wurde. Auch für Behandelnde bietet die nun mögliche Diagnose eine Form der Handlungssicherheit – erstens sind nun definierte diagnostische Kriterien verfügbar, zweitens wissen Behandelnde nun, dass sie Computerspielsucht auch offiziell behandeln dürfen und nicht länger nach Querfinanzierungen suchen müssen.“

Für die Behandlung von Computerspielsucht und Pornosucht ist die Anerkennung durch die ICD-11 also ein großer Schritt. Für ein abhängiges Verhalten nach sozialen Netzwerken, Messengern oder anderen Onlinediensten ist dieser Weg allerdings noch zu gehen. Bleibt zu hoffen, dass es nicht noch einmal zwölf Jahre dauert, bis das Ziel erreicht ist.

Quellen

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