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Mehrere Menschen legen ihre Hände aufeinander nach dem Motto "Einer für alle, alle für einen".

Foto: jarmoluk/pixabay

Junge Selbsthilfe – Von wegen Selbsthilfe ist nur was für alte Leute!

18 April 2019

Lesezeit 8 Minuten

Selbsthilfegruppen sind nur was für alte Menschen? Das ist eines der größten Vorurteile, mit denen die Selbsthilfe in den letzten Jahren zu kämpfen hat. Dabei braucht jeder Mensch hin und wieder mal Hilfe – auch die jungen. Wir haben Maren Kochbeck von der Selbsthilfe-Kontaktstelle Frankfurt am Main und Nicole aus der Arbeitsgruppe „Junge Selbsthilfe“ und der Selbsthilfegruppe „Junge Menschen in Krisenzeiten“ interviewt.

Saskia Rößner (webcare+): Junge Selbsthilfe, was versteckt sich dahinter?

Maren Kochbeck: „Junge Selbsthilfe“ ist ein Projekt vom Selbsthilfe e.V. Es besteht aus vier Bausteinen:

Saskia Rößner: Wie ist das Projekt Junge Selbsthilfe entstanden?

Maren Kochbeck: Die Idee hatten wir vor etwas über einem Jahr. Wir haben alle Selbsthilfegruppen in Frankfurt angeschrieben und gefragt: Wo gibt es junge Gruppenmitglieder? Viele Gruppen haben geantwortet: Bei uns gibt es leider keine jungen Leute, wir hätten aber gerne welche. Die wenigen jungen Kontakte, die wir bekommen haben, haben wir in eine Arbeitsgruppe eingeladen. Gemeinsam haben wir dann besprochen, was wir machen wollen. Das Projekt wird zusammen mit jungen Menschen geplant und auch zusammen mit ihnen ausgewertet.

Nicole: Das besondere an der Arbeitsgruppe ist, dass wir so viele unterschiedliche Köpfe dabei haben. Betroffene mit verschiedenen Hintergründen und die therapeutische und professionelle Seite von Frau Kochbeck und ihren Kolleg*innen. Wir haben Erfahrungen, Ideen und Wünsche. Die Mitarbeiter*innen haben Zeit, Kraft und Wissen für die Umsetzung. Das ergänzt sich gut.

Menschen sitzen um einen Tisch herum und arbeiten zusammen.

Foto: StockSnap/Pixabay

Saskia Rößner: Und die Selbsthilfegruppe für junge Menschen?

Maren Kochbeck: Die ist erst ein paar Monate später gestartet, erst 14-tägig und mit immer neuen Gesichtern. Mittlerweile hat sich die Gruppe stabilisiert und es wird bald sogar eine zweite Gruppe geben. Bei den Gruppentreffen bin ich aber nur kurz zur Begrüßung da oder wenn die Gruppe mich aktiv um Rat oder Moderation fragt. Da kann Nicole mehr zu erzählen.

Nicole: Wir sind Menschen, die mit gewissen Situationen nicht klar kommen, die zum Beispiel eine Krankheit haben oder sich gerade in einer anderen Krise befinden, und die nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen. Familienangehörige haben manchmal vielleicht kein offenes Ohr, oft weil sie selbst gar nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.

Saskia Rößner: Nicole, was hat dich bewogen, bei der Jungen Selbsthilfe mitzumachen?

Nicole: Nach meiner Reha wollte ich mich mit anderen Betroffenen austauschen, die meine Situation verstehen. Ich war zunächst in einer Selbsthilfegruppe, in der ich die jüngste war. Das hat für mich einfach nicht gepasst. Deswegen fand ich die Idee einer Jungen Selbsthilfe interessant und notwendig und ich wollte da auch selbst mitarbeiten. Deswegen bin ich sowohl im Arbeitskreis als auch in der Selbsthilfegruppe mit dabei.

Eine Person reicht einer anderen ihre helfende Hand.

Foto: Remi Walle/Unsplash

Saskia Rößner: Und was hat dir die junge Selbsthilfegruppe persönlich gebracht?

Nicole: Mir geht es jetzt wieder besser, aktuell sogar recht gut. Aber ich weiß, wie es ist, in einer Krise zu stecken. Ich möchte anderen in der Gruppe zeigen, dass es einen Weg daraus gibt. Der ist vielleicht schwer und man muss kämpfen, aber es ist möglich. Deswegen bleibe ich in der Selbsthilfe weiter aktiv, auch wenn es mir gerade gut geht.

Maren Kochbeck: Wenn neue Leute zu uns kommen, stecken manche von ihnen noch tief in einer Krise. Dass Nicole es da wieder raus geschafft hat und so offen damit umgeht, macht ihnen Mut. Ein Problem, insbesondere junger Selbsthilfegruppen, ist, dass die Mitglieder nur zu den Treffen kommen, wenn es ihnen gerade sehr schlecht geht. Das ist natürlich besser, als wenn sie gar nicht kommen würden. Aber eine Selbsthilfegruppe braucht auch Menschen, die dabei bleiben, wenn sie stabiler sind.

Saskia Rößner: Was ist das Besondere an Junger Selbsthilfe?

Maren Kochbeck: Die Selbsthilfegruppe ist, wie der Name schon sagt, speziell für junge Menschen gedacht. Sie ist offen für Menschen ab 18 Jahren bis Mitte 30. Die „Mitte dreißig“ sehen wir aber flexibel, das ist eine Einzelentscheidung und hängt auch von der individuellen Lebenssituation der Interessierten ab. Auch der Name „Junge Menschen in Krisenzeiten“ ist bewusst offen gewählt. Man muss bei uns keine ärztlichen Diagnosezettel mitbringen. Ob man in Frankfurt, im Umland oder weiter weg wohnt, ist übrigens egal. Die Gruppe ist allerdings nur für Betroffene gedacht, nicht für Angehörige oder Gäste.

Mehrere Junge Menschen gucken sich von einem hohen Gebäude aus den Sonnenuntergang an.

Foto: Devin Avery/Unsplash

Saskia Rößner: Wäre die junge Selbsthilfegruppe auch für Menschen mit problematischem Medienkonsum offen?

Maren Kochbeck: In der jungen Selbsthilfegruppe hatten wir auch schon Mitglieder mit Suchtproblematik anderer Art, also warum nicht? Vieles überschneidet sich ja auch, zum Bespiel die Gefahr der sozialen Vereinsamung oder die Alltagsbewältigung. Und der Druck, der in einem entsteht, wenn man (real oder online) sieht, dass Freund*innen vielleicht lauter tolle Sachen erleben, bei denen man selbst nicht dabei ist oder einfach nicht dabei sein kann. Da ist ein gegenseitiger Austausch gut möglich. Wenn es aber um die Bearbeitung der Sucht an sich geht, ist eine andere Gruppe vielleicht geeigneter. Es gibt ja auch spezielle Gruppen zu dem Thema, zum Beispiel die Anonymen Spieler bzw. Gamblers Anonymous.

Saskia Rößner: Wozu dient das „Kaffee Plauderkreisel“?

Maren Kochbeck: Der Plauderkreisel findet in einem Restaurant unten bei uns im Haus statt, das an dem Sonntag nur für uns öffnet. Bei Kaffee oder Tee können sich Interessierte erkundigen, was die Selbsthilfegruppe so macht. Es sind immer ein paar Menschen aus der Selbsthilfegruppe dabei. So können Interessierte direkt mit ihnen sprechen. Wenn junge Menschen bei uns in der Kontaktstelle anrufen oder vorbeikommen, sind ja erstmal nur wir Mitarbeiter*innen als Ansprechpersonen da.

Nicole: Das tolle am Plauderkreisel ist, dass er ein ungezwungenes Beisammensein ist. Du kannst kommen, musst aber nicht. Du kannst zu spät kommen oder früher gehen. Du kannst auch erstmal eine viertel Stunde nur zugucken und zuhören. Wenn Dir irgendetwas zu viel wird, kannst Du Dich zurückziehen oder das Restaurant verlassen. In einer Selbsthilfegruppe trauen sich das viele nicht. Der Plauderkreisel hat auch eine gemütlichere Atmosphäre als so ein Gruppentreffen.

Zwei Menschen sitzen bei einem Kaffee am Tisch und unterhalten sich.

Foto: nastya_gepp/pixabay

Saskia Rößner: Und wie sehen die Treffen der jungen Selbsthilfegruppe aus?

Nicole: Jede*r von uns bringt ein Thema mit, das einem gerade auf dem Herzen liegt. Wir entscheiden dann in der Gruppe, welches Thema vorrangig ist, weil es zum Beispiel mehrere von uns oder alle betrifft. Das besprechen wir dann zuerst. Pro Abend können wir uns über maximal zwei Themen austauschen. Das kann anstrengend sein, aufwühlen, überfordern, sehr nahe gehen. Deswegen würde ich es nicht als gemütlich bezeichnen, eher als harte Arbeit.

Maren Kochbeck: Das sagen wir auch immer wieder Menschen, die bei uns in der Kontaktstelle anrufen: Eine Selbsthilfegruppe hat nichts mit Kaffeeklatsch zu tun. Die meisten Gruppen verständigen sich darauf, eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen und gewisse Regeln einzuhalten. Zum Beispiel: Wir lassen uns ausreden. Das gibt den Mitgliedern Struktur und Schutz.

Saskia Rößner: Wie sieht es mit der Vertraulichkeit in der Selbsthilfe aus?

Maren Kochbeck: Eine weitere unserer Regeln ist: Was in der Gruppe besprochen wird, bleibt in der Gruppe. Außerdem muss niemand beim ersten Treffen direkt über sich sprechen, wenn die Angst noch zu groß ist. Aber die grundsätzliche Bereitschaft, etwas beizutragen und nicht nur zuzuhören, sollte man schon mitbringen. Auch muss niemand seinen vollen Namen, die Adresse oder Diagnose nennen oder seine Kontaktdaten hergeben. Und wenn doch, gehen wir damit natürlich vertraulich um.

Manche Gruppen sind auch über einen Messenger miteinander vernetzt. Wir als Kontaktstelle dürfen da aus Datenschutzgründen nicht mitmachen, warnen die Gruppen auch explizit davor. Das kann und muss aber jede*r selbst entscheiden, ob man da mitmachen möchte oder nicht.

Zwei Teddybären sitzten Arm in Arm im Gras.

Foto: Alexas_Fotos/Pixabay

Saskia Rößner: Danke für die spannenden Einblicke in die Junge Selbsthilfe. Letzte Frage: Wo können Interessierte sich melden?

Nicole: Die jungen Selbsthilfegruppen treffen sich immer mittwochs bzw. montags abends. Wer sich für eine Teilnahme interessiert, kann entweder zum „Kaffee Plauderkreisel“ kommen (jeden dritten Sonntag im Monat) oder sich bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle melden.

Maren Kochbeck: Die Selbsthilfe-Kontaktstelle ist in der Sonnemannstraße 3 in Frankfurt am Main, nahe der Haltestelle Ostendstraße. Telefonische Beratung zu Selbsthilfegruppen gibt es unter der Telefonnummer 069-559-444. Man kann uns aber auch eine E-Mail an jung@selbsthilfe-frankfurt.net schreiben oder unsere Internetseite www.selbsthilfe-frankfurt.net besuchen. Die Angebote der Jungen Selbsthilfe sind kostenlos.

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