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Game Over in Leuchtbuchstaben

Foto: Saskia Rößner / webcare+

Gaming Disorder: Empfehlungen zu Beratung und Behandlung

06 August 2020

Lesezeit 7 Minuten

Was tun bei Computerspielsucht? Was kann Prävention leisten? Wie sollte Beratung aussehen? Wie lässt sich eine Gaming Disorder diagnostizieren? In welchen Bereichen müsste noch geforscht werden? Diese Fragen hat sich eine gemeinsame Arbeitsgruppe der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. und des Fachverbands Medienabhängigkeit e.V. gestellt.

Die Ergebnisse wurden veröffentlicht unter dem Titel „Problematisches Computerspielen und Computerspielstörung (Gaming Disorder): Bestandsaufnahme und Positionierung in den Bereichen Prävention und Frühintervention, Beratung, Behandlung und Rehabilitation sowie Forschung“. Wir wollen uns in diesem Blogartikel ein paar zentrale Aussagen herausgreifen.

Gaming Disorder: Prävention, Beratung, Therapie, Forschung

Wie der Untertitel schon vermuten lässt: Die Arbeitsgruppe unterteilt sich noch einmal in vier Unterarbeitsgruppen:

  1. Prävention / Frühintervention
  2. Beratung von Menschen mit drohender oder vorhandener Computerspielsucht
  3. Behandlung / Therapie / Rehabilitation
  4. Wissenschaft / Forschung

Wir wollen uns hier jedoch nicht allen Bereichen der Arbeitsgruppe widmen. Wenn Du Dich für Prävention und Frühintervention von Mediensucht interessierst, schau doch mal in diesen Blogartikel von uns. Damit haben wir uns nämlich Anfang dieses Jahres schon einmal befasst, weshalb wir diesen Teil hier auslassen. Aber auch die Empfehlungen der Unterarbeitsgruppe sind lesenswert. Das Forschungskapitel werden wir in diesem Beitrag ebenfalls nicht thematisieren. Wissenschaftler*innen werfen bei Interesse bitte selbst einen Blick in die Empfehlungen. Wir fokussieren uns in diesem Blogbeitrag also auf Beratung und Behandlung.

Beratung bei Computerspielsucht

Das Positionspapier betont die besondere Rolle von Beratungsangeboten in der Hilfelandschaft: „Beratungsstellen sind häufig der erste Kontakt zu Hilfen und können früh auf beginnende und bestehende Probleme reagieren. Zudem sind sie in örtliche Netzwerke eingebunden und verfügen über entsprechende Möglichkeiten der Vermittlung bei weitergehendem Behandlungs- oder anderweitig gelagertem Beratungsbedarf“ (S. 12).

Umso gravierender dürfte der Umstand sein, dass nicht alle Betroffenen Zugang zu einer Beratungsstelle haben: „In Bezug auf die Beratung von Menschen mit einer drohenden oder vorliegenden Computerspielstörung (Gaming Disorder) ergeben sich aktuell in Deutschland noch erhebliche Versorgungslücken, die in der Konsequenz eine geeignete und bedarfsgerechte Versorgung Hilfesuchender erschweren“ (S. 13).

Person spielt am Computer

Foto: 11333328 / Pixabay.com

Die Arbeitsgruppe bemängelt zum einen, dass sich in manchen Bundesländern kaum Beratungsangebote finden ließen. Zum anderen kritisiert sie, dass bestehende Angebote für Außenstehende oft nicht als solche klar erkennbar seien. Des Weiteren seien die beratenden Fachkräfte zwar in der Regel hoch qualifiziert, für Qualifizierungen fehle es aber noch an einheitlichen Standards und an Anerkennung.

Beratungsangebote: Empfehlungen und offene Fragen

Gefordert werden von der Arbeitsgruppe daher:

  • Eine finanziell abgesicherte, qualifizierte und vernetzte Beratung für Betroffene und Angehörige
  • Die Entwicklung, Abstimmung, Verbreitung und Weiterentwicklung von verbindlichen fachlichen Standards

Darüber hinaus weist das Dokument auf mehrere Aspekte hin, die nach Einschätzung der Arbeitsgruppe dringend zu klären sind. Ein paar Beispiele: Wie sollen sich Beratungsstellen verhalten, wenn Minderjährige sie aufsuchen? Sollen dann Erziehungs- und Familien-Beratungsstellen miteinbezogen werden? Werden Ratsuchende an andere Stellen weitergeleitet, welche Stelle übernimmt dann die Fallführung? Was können Online-Beratungsangebote leisten und wie können sie sinnvoll mit Beratung vor Ort kombiniert werden?

Behandlung: Diagnose von Gaming Disorder

Bevor eine Krankheit behandelt werden kann, muss sie erst einmal diagnostiziert werden. Jedoch: „Nicht überall wird die Symptomatik erkannt, außer Betroffene (oder ihre Umgebung) äußern selbst  einen Leidensdruck oder werden explizit danach gefragt“ (S. 15).

Da eine Computerspielsucht im aktuellen Diagnosekatalog ICD-10 noch nicht enthalten ist, gestaltet sich eine Diagnose mitunter auch schwierig. Ärzt*innen würden daher bisher auf andere Diagnosen ausweichen, beispielsweise „abnorme  Gewohnheiten  und  Störungen  der  Impulskontrolle“ oder  „sonstige näher bezeichnete Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“.

Die Arbeitsgruppe kritisiert daher: „Eine einheitliche Diagnostik liegt zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht vor. […] Auch wenn mehrere Fragebögen im deutschsprachigen Raum zur Verfügung stehen, wurden diese bislang vorrangig zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Störungsbild entwickelt, haben aber bisher nicht in standardisiertem Maße Einzug in den ambulanten und stationären Behandlungsalltag erhalten“ (S. 15).

Gaming Maus und Kopfhöhrer

Foto: Fazly Shah / Unsplash.com

Auch die Abgrenzung zwischen risikoarmen, riskanten, missbräuchlichen und pathologischen Computerspielen sei noch nicht klar genug definiert.

Die Aufnahme der Gaming Disorder in den ICD-11 begrüßt die Arbeitsgruppe daher ausdrücklich. Sie erhofft sich dadurch nicht nur eine bessere Versorgungslage für Betroffene, sondern auch eine „bessere Vergleichbarkeit, die Möglichkeit zum Aufbau standardisierter Diagnostik und der  Etablierung von regelhaften Behandlungsstrukturen“ (S. 16).

Therapie von Computerspielsucht: Forderungen

Nicht nur bei der Diagnose, auch bei der Behandlung einer Computerspielsucht liegen Betroffenen und Fachkräften offenbar noch zahlreiche Stolpersteine im Weg. Die Versorgungslage scheint hier ähnlich dünn zu sein wie bei den Beratungsangeboten: „Die Angebotsstruktur für die Behandlung von Computerspielstörungen ist aktuell für alle Altersgruppen unzureichend. Insbesondere in strukturschwachen Gegenden ist die ambulante und stationäre Behandlung noch nicht ausreichend gewährleistet. Oft fehlt Betroffenen und ihren Angehörigen eine Orientierung, an wen sie sich wenden können“ (S. 16).

Folglich sehen die Forderungen der Arbeitsgruppe so aus:

  • Weitere Aufklärung zum Störungsbild und Therapiemöglichkeiten für Betroffene
  • Spezialisierte Fort- und Weiterbildungen für Fachkräfte zur Verbesserung von Behandlungskompetenzen
  • Erhöhte Sensibilität und Handlungskompetenzen in der Erkennung und Behandlung der Computerspielstörung sowie den daraus resultierenden bio-psycho-sozialen Folgen
  • Besondere Berücksichtigung komorbider psychiatrischer Störungsbilder und sozialer Faktoren

Unser Fazit: Bitte lesen! Bitte umsetzen!

Überraschende Neuigkeiten beinhaltet die Veröffentlichung für die Mitarbeitenden von webcare+ nicht. Immerhin ist unser Projekt entstanden, weil Betroffene damals eher selten den Weg in Beratungseinrichtungen gefunden haben. Und weil wir als Online-Portal von überall aus zugänglich sind, Internetverbindung vorausgesetzt. Dennoch halten wir die Empfehlungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. und des Fachverbands Medienabhängigkeit e.V. für unbedingt lesenswert. Denn Sie vereinen viele Lücken und Bedarfe in einem Dokument. Und wir konnten keinen Punkt finden, dem wir aus unserer Erfahrung heraus widersprechen könnten.

Daher bitte, liebe Mitarbeitende in der Prävention, Frühintervention, Beratung, Diagnostik, Therapie, Wissenschaft und Forschung, werfen Sie einen Blick in diese Empfehlungen! Und bitte, liebe Entscheidungs- und Kostenträger*innen, ermöglichen Sie die Umsetzung der Forderungen!

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