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Minecraft-Figur in der analogen Welt nachgebaut

Foto: Bente Stachowske / Initiative Creative Gaming e.V.

Creative Gaming: Medienkritik, die Spaß macht

16 Juli 2020

Lesezeit 7 Minuten

Medienkompetenz ist zu einer Schlüsselkompetenz in unserer Gesellschaft geworden. Doch wie lernt man, kompetent mit Medien umzugehen? Ein Schulfach gibt es dafür nicht. Teil der Ausbildung oder des Studiums? Bisher wohl nur in medienbezogenen Fachgebieten. Wie bringen wir die Medienkompetenz also zu den Menschen? Im Bereich Computerspiele gibt es dafür unter anderem das Konzept des Creative Gaming. Wir haben Diplom-Pädagogin Christiane Schwinge interviewt. Sie ist Gründungsmitglied und Sprecherin der Initiative Creative Gaming, die sich für einen kreativen, reflektierten und kritischen Umgang mit digitalen Spielen stark macht.

Frau Schwinge, was verbirgt sich denn hinter Creative Gaming?

Christiane Schwinge: Creative Gaming bedeutet, Spiele anders zu nutzen als sie ursprünglich gedacht sind. Unser Claim lautet „Mit Spielen spielen!“. Wir nutzen Spiele anders, brechen zum Beispiel Regeln. Wir gucken, was passiert, wenn ich ein Spiel als Werkzeug benutze, um etwas Neues daraus zu kreieren.

Was passiert, wenn ich es nicht ganz normal spiele oder mich im Spiel anders verhalte als normalerweise? Wie reagieren dann die anderen Mitspielenden? Es geht also um einen Perspektivwechsel. Wie ist das Medium aufgebaut und wie kann ich das dekonstruieren?

Videospiele sind ein sehr komplexes und auf den ersten Blick geschlossenes Medium. Sie lassen sich jedoch aufbrechen. Wenn wir beispielsweise das Computerspiel SIMS 4 nehmen, können wir statt des vorgesehenen Spielverlaufs das Spiel auch zu einem Filmstudio machen. So können wir einen kleinen Film oder auch einen Comic produzieren und unsere eigene Geschichte erstellen.

Elektronik-Basteln in einem Workshop

Foto: Bente Stachowske / Initiative Creative Gaming e.V.

Der Begriff oder das Konzept Creative Gaming ist 2006 im Wissenschaftsjahr der Informatik entstanden. Da habe ich zusammen mit anderen Medienpädagog*innen ein kleines Filmfestival in der Bundeskunsthalle in Bonn gemacht. Der Titel des Festivals war „animiert programmiert“, es ging also um Animationsfilme von Knetfiguren bis hin zu Machinima. Letzteres sind Filme, die in Spielen entstehen. Wir dachten uns, was wir medienpädagogisch im Bereich Film machen, sollten wir eigentlich auch im Bereich Games machen.

Mit der Initiative Creative Gaming ist ein gemeinnütziger Verein entstanden, in dem ein bunter Mix an Menschen aus Pädagogik, Game Design und Wissenschaft zusammenarbeitet. Unsere Ballungsräume liegen in Berlin und Hamburg, aber mit unseren Workshops sind wir in ganz Deutschland unterwegs.

Wie sehen Zielgruppe und Formate von Creative Gaming aus?

Christiane Schwinge: Unsere junge Zielgruppe startet bei 11 oder 13 Jahren. Wir arbeiten also nicht mit Kindern, sondern erst ab dem Jugendalter. Wir bieten Workshops für Schüler*innen im Schulkontext an. Jugendliche können aber auch in ihrer Freizeit an unseren außerschulischen Angeboten teilnehmen. Außerdem gibt es von uns Workshops für Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte und Multiplikator*innen aus der freien Jugendarbeit.

Wir sind auch viel in Bibliotheken unterwegs, weil Computerspiele und ein kreativer Zugang zu diesem Medium hier auch ein wichtiges Thema sind. Hin und wieder finden auch Seminare statt. An der Universität zu Köln habe ich im Studiengang Intermedia gerade ein Seminar zu Creative Gaming gegeben. Was die Zielgruppen angeht, sind wir also ziemlich breit aufgestellt, da wir uns an der Schnittstelle zwischen Medienkunst und Medienpädagogik bewegen.

Rennende Jugendliche mit Würfeln in der Hand

Foto: Bente Stachowske / Initiative Creative Gaming e.V.

Wir machen auch nicht nur Workshops und Weiterbildungen, sondern auch Ausstellungen und kulturelle Veranstaltungen. Einmal im Jahr laden wir nach Hamburg zum PLAY – Creative Gaming Festival mit Ausstellungen, Workshops, Mitmachaktionen und Co ein, zu dem ganz unterschiedliche Zielgruppen kommen. Dieses Jahr findet das Festival am 4.-8. November statt – online und kostenfrei.

Wie lässt sich mit Creative Gaming Medienkompetenz fördern?

Christiane Schwinge: Wir gehen vom Medienkompetenz-Begriff nach Prof. Dr. Dieter Baacke aus, der vier Kompetenz-Kategorien umfasst: Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung. In unseren Projekten verweben wir diese Kategorien miteinander.

Zum Beispiel entwickeln wir in Workshops mit Jugendlichen ein Spiel zu einem neuen Thema, das es bisher noch nicht gibt. Hier wird die Mediengestaltung greifbar, denn am Ende ist da ein neues Spiel, was die Jugendlichen selbst designt haben und was sie dann auch spielen können.

Im Prozess der Spiele-Entwicklung werden aber auch die anderen Kompetenz-Kategorien angesprochen. In der Kennenlern-Runde fragen wir die Jugendlichen gezielt nach ihrer Mediennutzung: Was spielt ihr gerade? Wie sieht es mit der Mediennutzung aus? Was macht ihr gerne? Wann spielt ihr? Spielt ihr auch mal länger als gedacht? Spielt ihr am liebsten mit Freund*innen? Wie seid ihr drauf, wenn ihr spielt?

Workshop mit Jugendlichen

Foto: Bente Stachowske / Initiative Creative Gaming e.V.

Wir beschäftigen uns in den Workshops auch mit Medienkunde: Wie kennen sich die Jugendlichen mit dem Mediensystem aus? Wissen sie, wie die Games Branche aussieht? Kennen Sie die Marketing-Mechanismen?

Die Medienkritik teilt sich nochmal in drei Unterkategorien: Analytisch, reflexiv und ethisch. Da schauen wir, wie reflektiert der Umgang der Jugendlichen mit dem Medium Computerspiel ist. In unseren Workshops stellen wir fest, dass Jugendliche sich sehr viele Gedanken machen, sich fast schon philosophische Fragen stellen. Aber meistens haben sie diese Fragen zuvor noch nie ausgedrückt oder mit jemandem darüber gesprochen. Ethische Fragen stellen sich beispielsweise bei der Repräsentation von Spielfiguren oder sexistischen Darstellungen. Auch das greifen wir auf.

Wie gelingt die Balance zwischen Spielspaß und Medienkritik?

Christiane Schwinge: Die Workshops machen Spaß, weil sich die Teilnehmenden in ihrer Freizeit sehr gerne mit Computerspielen beschäftigen. Sie wissen schon viel darüber, lernen bei uns aber trotzdem noch etwas Neues.

Dazu kommt das Gefühl der Selbstwirksamkeit: Die Teilnehmenden merken, dass sie auch selbst ein Spiel entwickeln können.  Auch wenn das, was wir machen, am Ende eines Workshop-Tages natürlich anders aussieht als Spielproduktionen, die Jugendliche sonst gewohnt sind. Dennoch erkennen sie: Ein Spiel ist ein System, das aus Regeln besteht, und so etwas kann ich auch selbst programmieren. Am Ende etwas Eigenes auszuprobieren, macht natürlich auch viel Spaß.

Medienkritik heißt ja nicht nur, die negativen Aspekte herauszustellen. Medienkritik bedeutet, ich beschäftige mich analytisch und reflexiv mit einem Medium, mit dem ich mich gut auskenne.

Wir fragen die Jugendlichen einfach: Was fällt euch da auf? Seid ihr schon mal über Darstellungen gestolpert, die euch nicht gepasst haben? Hat sich im Spiel vielleicht schon mal jemand komisch verhalten, was ihr nicht gut fandet? Solche Fragen fallen auch unter Medienkritik. Wir fragen unsere Teilnehmenden also nicht, was sie alles blöd finden.

Wir fragen, was ihnen auffällt. Ob es etwas gibt, was ihnen bisher nur bei Computerspielen aufgefallen ist und noch bei keinem anderen Medium, beispielsweise wenn es um ethische Entscheidungen im Spiel geht. Medienkritik ist eine Vogelperspektive auf Videospiele. Wenn wir die Jugendlichen ernst nehmen und ihnen zuhören, öffnet das Raum für Gespräche, die sie so vielleicht noch nie geführt haben.

Ist exzessives Computerspielen oder Gaming Disorder in Ihren Workshops ein Thema?

Christiane Schwinge: Jein. In unseren Kennenlern-Runden zu Beginn eines Workshops fragen wir auch danach, wie viel die Jugendlichen spielen. Manchmal erzählen die Teilnehmenden aber auch: „Ich kenne da jemanden, der so viel spielt und der sich von uns irgendwie abgewendet hat. Ich mache mir Sorgen um ihn“. Da werden wir natürlich hellhörig und besprechen dann mit der Person nochmal in einer Zweier-Situation, was sie selbst oder Eltern oder Lehrkräfte tun können, um zu helfen. In so einem Workshop im Ferienkontext sehen wir die beispielsweise Jugendlichen nur sehr kurz.

Mit der Computerspielschule Hamburg hingegen hatten wir lange Zeit ein offenes Angebot, das Jugendliche einmal pro Woche besuchen konnten. Da haben sie weniger von eigenen problematischen Erfahrungen erzählt, wollten aber wissen, wie man eine Computerspielsucht erkennt und welche Komponenten da noch beteiligt sind.

Gruppe Jugendlicher mit selbstgebastelten VR-Brillen fürs Samrtphone

Foto: Foto: Bente Stachowske / Initiative Creative Gaming e.V.

Bei einem auffälligen Spielverhalten steht im gesellschaftlichen Diskurs oft nur der zeitliche Aspekt im Fokus. In Gesprächen mit Jugendlichen geht es deswegen auch darum, klarzustellen, wie komplex eine Gaming Disorder eigentlich ist und dass es eben nicht nur um die Nutzungszeiten geht.

Und dann gibt es noch eine ganz andere Entwicklung: Bei Spielen, die besonders vereinnahmen und mitreißen, sprechen Jugendliche mitunter davon, dass sie diese „gesuchtet“ haben, ähnlich wie beim Binge Watching. Das wird von Jugendlichen also nicht als Krankheitssymptom, sondern umgedreht als Qualitätskriterium gewertet.

Kann Creative Gaming einen Beitrag zur Suchtprävention leisten?

Christiane Schwinge: Creative Gaming kann da ein Baustein sein. Hier geht es ja um die aktive Auseinandersetzung mit Computerspielen: Ich vollziehe einen Perspektivwechsel und kann das Medium nochmal anders verstehen. Ich sehe, das wurde von anderen Menschen erschaffen und ich kann das auch selbst gestalten oder aufbrechen.

Das Gefühl der Selbstwirksamkeit ist für Spiele sehr relevant und vielleicht auch ein anderes Feedback als ich in meinem normalen Alltag bekomme.

Wir schauen uns auch an, warum Spiele so spannend sind, warum wir an einer Stelle unbedingt weiter spielen wollen oder etwas fertigstellen möchten. Welche Elemente spielen hier eine Rolle? Geht es dabei auch um soziale Verpflichtungen, beispielsweise wenn ich in einer Gruppe spiele?

Ich denke, Medienkompetenzförderung bezogen auf digitale Spiele kann ein wichtiger Baustein der Suchtprävention sein.

Allerdings ist Gaming Disorder sehr komplex und mannigfaltig in der Entstehung, daher muss auch auf andere Bereiche eingegangen werden, beispielsweise die Situation in der Familie, schulische Belastungen und so weiter.

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