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Masken auf Wäscheleine

Foto: fotoblend 7/ Pixabay.com

Medienabhängig: Unsere Erfahrungen mit Pandemie, Lockdown und Social Distancing

28 Oktober 2021

Lesezeit 8 Minuten

Selbst bei Menschen, deren Mediennutzung unbedenklich ist, sind die Nutzungszeiten seit Ausbruch der Pandemie gestiegen. Verständlich. Doch was ist mit denjenigen, die schon vor Covid-19 mit einer problematischen oder suchtartigen Mediennutzung zu kämpfen hatten? Was ist mit denen, die mittendrin in einer Behandlung stehen; oder erst ganz am Anfang? Was ist mit denen, die ihre Sucht bereits überwunden haben und ihre Mediennutzung wieder unter Kontrolle haben? Wie haben sie die Lockdowns, Social Distancing und Co erlebt? Wir haben mit dem Suchthilfezentrum Wildhof in Offenbach gesprochen und außerdem einzelne Betroffene befragt, wie es ihnen in den letzten 1,5 Jahren ergangen ist.

Covid-19-Pandemie: Das Suchthilfezentrum Wildhof berichtet

„Unsere Klient*innen haben Pandemie und Lockdown ganz unterschiedlich erlebt. Bei den meisten, die schon vorher unter Medienabhängigkeit gelitten haben, hat sich nicht so viel verändert, da ihre Problemlage bereits extrem belastend war. Die Medienzeiten sind natürlich gestiegen, aber die Bedürfnisse, die dahinterstehen, haben sich nicht verändert. Plakativ ausgedrückt: Ob sie nun 10 oder 12 Stunden täglich zocken, ist da nicht entscheidend.

Bei vielen von denen, die eine problematische, aber noch nicht unbedingt eine suchtartige Nutzung aufgewiesen haben, haben die Lockdowns hingegen oft als Katalysator gewirkt: Als andere Freizeitbeschäftigungen weggefallen sind, sind ihre Medienzeiten und ihr Leidensdruck angestiegen.

Wir hatten allerdings auch Klient*innen, deren Konsum während der Lockdowns in die Höhe geschnellt, aber umgehend wieder abgeflacht ist, als die Lockdowns beendet wurden. Das waren dann diejenigen Menschen, die einfach aus Langeweile gespielt haben, weil nicht viel anderes möglich war.“

Mann mit Handy und Maske an Bushaltestelle

Foto: cardmapr / Unsplash.com

Wildhof: Seit Pandemie mehr Anfragen von Betroffenen, mehr Teilnahmen an Elternabenden

„Was im Vergleich zu vor der Pandemie bei uns zugenommen hat: Einerseits kommen mehr Familien, also Eltern mit Kind(ern) zu uns in die Beratung. Das könnte daran liegen, dass die Familienmitglieder mehr Zeit miteinander verbracht haben und enger als sonst beisammen waren. Das könnte zu mehr Aufmerksamkeit für die anderen, aber auch zu mehr Streit (beispielsweise über die Mediennutzung) geführt haben. Andererseits kommen jetzt auch mehr Betroffene selbst zu uns. Vorher waren es vor allem die Angehörigen, die den Erstkontakt zu uns aufgenommen haben. Möglicherweise ist das Problembewusstsein der Betroffenen gestiegen.

Die Teilnahmezahl an unseren Elternabenden zum Thema Mediensucht ist steil nach oben gegangen. Das könnte an einem gestiegenen Bedarf liegen, aber auch daran, dass wir die Elternabende erstmals digital veranstaltet haben und sie daher für viele eventuell leichter zugänglich waren.“

Wildhof: Drei Fallbeispiele von Medienabhängigkeit während Corona

„Fall A: Ein Klient von uns hat von morgens bis abends nur Videospiele gespielt, nicht vor die Tür gegangen, nur einmal in der Woche zum Einkaufen. Das war vor der Pandemie so und das war in der Pandemie nicht anders.

Fall B: Bei einem anderen Klienten war es vor der Pandemie genauso wie in Fall A. Bei dem hat aber irgendwann die Motivation eingesetzt, etwas verändern zu wollen. Er hat sich im Fitnessstudio und in einem Fußballverein angemeldet. Dann kam der Lockdown und er wurde wieder zurückgeworfen. Obwohl beides jetzt wieder möglich wäre, konnte er durch diesen Rückschlag seine Motivation nicht mehr aufrechterhalten, bis heute nicht. Das ist natürlich tragisch.

Fall C: Ein Klient mit problematischer Mediennutzung musste durch den Lockdown im Home Office arbeiten. Dort hat er dann so gut wie gar nicht mehr gearbeitet, nur noch an den Teammeetings teilgenommen. Ansonsten hat er seinen Tag mit Streaming und Surfen verbracht. Da hat die soziale Kontrolle durch die Kolleg*innen gefehlt. Bei Home Schooling oder Studium sind uns ähnliche Fälle begegnet.“

Coronavirus auf Handydisplay

Foto: Napendra Singh / Unsplash.com

Wildhof: Weniger Möglichkeiten der Ablenkung, aber Social Distancing nicht so gravierend

„Das Social Distancing wurde von vielen unserer Klient*innen als nicht so schlimm empfunden. Bei uns sind hauptsächlich junge Menschen wegen Mediensucht in der Beratung, die sowieso nicht so strikt zwischen online und offline trennen. Die sind über Messenger und soziale Netzwerke eng mit ihren Mitmenschen verbunden. Allerdings haben auch für die jungen Menschen Begegnungen eine ganz andere Qualität. Und die soziale Unterstützung ist ja auch eine ganz wichtige und hilfreiche Komponente auf dem Weg hinaus aus der Abhängigkeit.

Im Unterschied zu stoffgebundenen Süchten, sind oft noch mehr Möglichkeiten der Ablenkung weggefallen. Statt zu trinken, konnten alkoholabhängige Menschen im Lockdown beispielsweise einen Film gucken oder ein Videospiel zocken. Menschen, die computerspielabhängig sind, sollten aber zur Ablenkung natürlich nicht anfangen, Alkohol zu trinken oder Drogen zu nehmen. Da ist die Auswahl an alternativen Beschäftigungen nochmal geringer. Als Maßnahmen, um den eigenen Medienkonsum zu kontrollieren, haben unsere Klient*innen dann vor allem auf technische Tricks, zum Beispiel Sperrungen, zurückgegriffen. Einer hat beispielsweise auch seinen Fernseher von seiner Mutter abholen lassen.“


Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen

Gegenüber webcare+ berichten Menschen, die von Mediensucht betroffen sind oder waren, ähnliches. Das Wegfallen von alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten habe sie sehr belastet hat. Die Wege, wie sie damit umgegangen sind, gestalten sich allerdings vielfältig. Im Folgenden ein paar Kurzgeschichten von den Betroffenen selbst:

Vicky, 54 Jahre:

„Die Zeit der Lockdowns war schlimm. Zeitweise durfte ich gar nicht arbeiten, dann wieder nur sehr wenig (Kurzarbeit). Mir ist zuhause die Decke auf den Kopf gefallen. Glücklicherweise hatte ich den Computer schon verkauft und mein Handy ist so alt, dass ich keine neuen Apps installieren konnte. Ein Rückfall ins Online-Glücksspiel war also so gut wie unmöglich.

Ich habe dann krampfhaft nach einer Beschäftigung gesucht, um nicht den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen zu müssen.  Da wurde dann aufgeräumt, ausgemistet, geputzt, Möbel umgestellt und sogar die Wände neu gestrichen. Länger hätten die Lockdowns aber nicht sein dürfen. Denn meine Wohnung ist jetzt auf Hochglanz poliert und es gibt da nichts mehr zu tun.“

Vickys ganze Geschichte kannst du hier nachlesen.

Desinfektionstuch auf Tastatur

Foto: Erik McLean / Unsplash.com

Anonym:

„Ich stecke noch mitten drin in der Mediensucht. Während der Lockdowns habe ich keinen wesentlichen Unterschied in Mediennutzung bemerkt. Was ich aber sehr wohl gemerkt habe: Dass das öffentliche und soziale Leben plötzlich zum Erliegen gekommen ist, hat mir gutgetan. Weniger Alltagsstress, weniger Druck, mehr Zeit für mich. Ich konnte mich besser auf mich und meine Bedürfnisse fokussieren. Ich habe dann bezüglich meiner Mediensucht auch endlich den Kontakt zu verschiedenen Hilfeangeboten aufgenommen.“

Die Angst vor einem Rückfall begleitet mich täglich

Jutta, 58 Jahre:

„Meine Medienzeiten haben sich während der Lockdowns glücklicherweise in Grenzen gehalten. Das habe ich auch meiner erwachsenen Tochter zu verdanken, die mich oft besucht und etwas mit mir zusammen unternommen hat. Inzwischen kann ich aber auch die Ruhe aushalten, ja sogar genießen.

Aber ich habe auch gemerkt, dass ich mein Suchtverhalten immer noch nicht ganz losgeworden bin. Einmal habe ich mich getestet, habe mir gesagt, ich schaue jetzt einen Film und wirklich nur einen. Es sind dann doch fünf Filme geworden und ich konnte nur schwer aufhören. Meine Gefühlswelt ist da immer noch nicht ganz stimmig und bei Druck oder Stress neige ich dazu, mich in die Medienwelt zurückzuziehen: YouTube, Filme mit Herz und Tiefgang.

Immerhin: Von Handyspielen lasse ich inzwischen voll und ganz die Finger, auch wenn ich noch hin und wieder an sie denken muss.

Die Angst, rückfällig zu werden, begleitet mich täglich. Ich versuche mich zu stabilisieren, indem ich an meinem christlichen Glauben und an meinem Selbstwertgefühl arbeite. Rückfälle versuche ich als Chance zu sehen, nach besseren Alternativen zu suchen, die mir wirklich guttun.

Was mir außerdem sehr hilft: Seit einiger Zeit telefoniere ich regelmäßig mit einer Frau, die ebenfalls von Mediensucht betroffen ist. Wir unterstützen uns gegenseitig. Hier vor Ort Menschen zu finden, denen es ähnlich geht, ist nach wie vor schwierig. Es gibt keine Selbsthilfegruppen oder andere Treffpunkte, während der Lockdowns erst recht nicht.“

Juttas ganze Geschichte kannst du hier nachlesen.

Frau mit Handy und Maske in U-Bahn

Foto: Jayana Rashintha / Unsplash.com

Meine Medienzeiten sind in der Pandemie stark gestiegen

Micha, Mitte 30:

„Ich bin im Einzelhandel tätig. In den Lockdowns war unser Laden geschlossen und ich wusste nicht so recht wohin mit meiner Zeit. Ich habe wieder angefangen zu spielen, sogar World of Warcraft, mit dem damals alles so schlimm war. Also ja klar: Meine Medienzeiten sind stark gestiegen nach Ausbruch der Pandemie, aber ich bin nicht rückfällig geworden. Was nicht heißt, dass es keine negativen Folgen gab.

Ich habe einiges an Gewicht zugelegt im ersten Lockdown. Irgendwann hats mir dann gereicht und ich wollte etwas dagegen machen. Ich habe mir ein neues Fahrrad gekauft und bin fast täglich gefahren, manchmal Strecken bis zu 70 Kilometer. Außerdem ernähre ich mich inzwischen gesünder, kaufe frisches Gemüse auf dem Markt ein und koche hauptsächlich vegan. Und das zeigt Wirkung: Nicht nur, dass ich inzwischen wieder schlank bin, ich fühle mich auch viel besser und fitter als vor der Pandemie.“

Michas ganze Geschichte kannst du hier nachlesen.

Wenn auch Du uns Deine Mediensucht-Geschichte (mit oder ohne Corona) erzählen möchtest, dann schreib uns eine E-Mail an info@webcare.plus.

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Dieser Blogbeitrag wurde im Rahmen unseres Themenmonats zu Mediensucht und Corona veröffentlicht. Hier kannst Du die anderen Blogbeiträge nachlesen:

Außerdem haben wir bereits diese beiden Artikel zum Thema veröffentlicht:

Schild mit lächelndem Herz Pornosucht: Anzeichen, Folgen und Hilfeangebote Emoji mit Maske auf Smartphone Was sollen wir denn sonst machen? Über Bedürfnisse, Lockdown und Mediensucht
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