Vor 2,5 Jahren, also im März 2019 haben wir uns bereits schon einmal mit dem Thema Onlinepornografie und Cybersex beschäftigt. Damals haben wir den Sexualpädagogen Benedikt Geyer interviewt. Nachlesen kannst Du das Interview hier. Seitdem hat sich einiges getan, beispielsweise wurde Pornosucht als offizielle Krankheit in den internationalen Diagnosekatalog ICD-11 aufgenommen. Ab 1. Januar 2022 können Betroffene auch in Deutschland von der Diagnosestellung profitieren und haben so mitunter leichteren Zugang zu Behandlungsmöglichkeiten. Um uns und Dich auf den neusten Stand der wissenschaftlichen Forschung zu Pornosucht zu bringen, haben wir Prof. Dr. Rudolf Stark von der Uni Gießen interviewt.
Saskia Rößner: Kann man zwischen Offline- und Online-Pornosucht unterscheiden?
Prof. Dr. Rudolf Stark: Die Unterscheidung spielt heute tatsächlich kaum mehr eine Rolle, da die meisten Pornografie-Konsumierenden das Internet mit der schier unerschöpflichen Anzahl von Filmen nutzen. Nach unseren Befragungen nutzen nahezu 90 Prozent dazu das Internet. Da neues Material besonders attraktiv ist, bietet das Internet eine ideale Quelle, um neues aufregendes Material zu finden. Gleichzeitig können sich Personen mit Online-Pornografie-Sucht in dieser riesigen Anzahl von Filmen verlieren, diese Gefahr ist bei Offline-Material geringer.
Männer häufiger von Pornosucht betroffen als Frauen
Saskia Rößner: Wie viele Menschen sind von suchtartiger Nutzung von Pornografie betroffen? Gibt es zahlenmäßig Unterschiede bei den Geschlechtern?
Prof. Dr. Rudolf Stark: Da Pornosucht bisher nicht als eigenes Störungsbild diagnostiziert werden konnte, gab es keine einheitlichen Kriterien, die erfüllt sein mussten, um die Diagnose zu vergeben. Das ändert sich mit dem zukünftigen Diagnosesystem der Weltgesundheitsorganisation (ICD-11), das 2022 auch in Deutschland eingeführt wird.
Eine Pornografie-Sucht oder Pornografie-Nutzungsstörung, wie sie auch genannt wird, liegt danach dann vor, wenn Betroffene ihre Pornografie-Nutzung fortsetzen, obwohl sie eigentlich ihren Konsum reduzieren oder einstellen wollen. Die Nutzung von Pornografie nimmt immer mehr Zeit in Anspruch, wobei bisherige andere Interessen an Bedeutung verlieren. Der Konsum führt zu negativen Konsequenzen. Das können Konzentrationsstörungen, Konflikte in Partnerschaften, Müdigkeit am Arbeitsplatz und ähnliches sein. Dadurch kommt es zu Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen, die seit 6 Monaten bestehen müssen. Die Einschränkungen und der Leidensdruck dürfen aber nicht nur durch moralische Urteile (z.B. religiöser oder kultureller Art) entstanden sein.
Wenn man diese Kriterien zugrunde legt, kann abgeschätzt werden, dass etwa 5 Prozent der männlichen Bevölkerung an einer Pornografie-Sucht leiden. Frauen sind deutlich seltener mit etwa 1 Prozent betroffen.
Je früher der Erstkontakt mit Pornos, desto riskanter
Saskia Rößner: Gibt es Risikofaktoren für die Entwicklung einer Pornosucht?
Prof. Dr. Rudolf Stark: Es gibt erste Hinweise darauf, dass zum Beispiel Menschen mit hoher Impulsivität, die spontan ohne lange nachzudenken sofort jedem Impuls nachgeben, ein größeres Risiko haben, eine Pornografie-Sucht zu entwickeln.
Ein kritischer Punkt scheint auch zu sein, in welchem Alter mit einem regelmäßigen Konsum von Pornografie begonnen wird. Werden schon früh Erfahrungen mit Pornografie gemacht, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Konsum zur Gewohnheit wird und dann letztlich auch zu einer Sucht werden kann.
Pornosucht: Kontrollverlust relevanter als Nutzungszeit
Saskia Rößner: Wie viel Pornografie-Konsum ist unbedenklich, ab wann wird es problematisch? Was sind (erste) Anzeichen einer Sucht nach Pornografie?
Prof. Dr. Rudolf Stark: Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass der bloße Umfang des Konsums (zum Beispiel Stunden in der Woche, die mit „Pornos-Gucken“ zugebracht werden) nicht allein ausreichen, um zu entscheiden, ob eine Sucht vorliegt. Entscheidend sind die oben aufgelisteten Kriterien, wobei der selbsterlebte Kontrollverlust („Ich kann nicht widerstehen, Pornos anzusehen, obwohl ich weiß, dass ich es aufgrund der erlebten Nachteile nicht mehr will“) wohl besonders wichtig ist.
Viele Konsumierende von Pornografie denken, dass ihre Pornografie-Nutzung nichts mit ihrer Partnerschaft zu tun hat. Das stimmt häufig nicht, da ja ein bedeutsamer Teil der eigenen Sexualität nicht mehr in der partnerschaftlichen Sexualität ausgelebt wird. Dies führt häufig irgendwann auch zu Konflikten in der Partnerschaft. Wenn man ehrlich seinen Pornokonsum bilanziert und sexuelle Schwierigkeiten in der Beziehung beobachtet, könnte das ein erstes Anzeichen beziehungsweise Warnsignal sein.
Negative Folgen für Partnerschaft und Arbeitsleben
Saskia Rößner: Welche Folgen kann eine Pornosucht außerdem noch auf Leben und Alltag haben?
Prof. Dr. Rudolf Stark: In der Regel dauert es lange bis sich eine Pornografie-Sucht entwickelt hat, die dann auch zu direkten Folgen im Alltag führt. Oft wird über Jahre heimlich Pornografie genutzt und die positiven Folgen des selbstgesteuerten Auslebens sexueller Lust stehen im Vordergrund. Der Konsum wird immer mehr zur Gewohnheit. Immer mehr Reize (zum Beispiel Anblick des Laptops) und Situationen (zum Beispiel Alleine-Zuhause-Sein) werden zu Auslösern, um Pornografie zu nutzen.
Häufig bekommt die Nutzung die Funktion, negative Gefühle zu beenden, indem man kurzfristig in sexuelle Phantasien flieht. Das kann dazu führen, dass Problemen immer mehr aus dem Weg gegangen wird und soziale Kontakte gemieden werden. Je nachdem, wieviel und wann konsumiert wird, kann es zu Einschränkungen im beruflichen Bereich kommen. Nach einer „Pornonacht“ ist man müde und unkonzentriert.
Ein Problem am Pornografie-Konsum kann wie oben schon erwähnt sein, dass partnerschaftliche Sexualität immer schwieriger wird. Da das Internet mit der Fülle an pornografischem Material alles bietet, genau das zu finden, was einen besonders anmacht, gewöhnt man sich immer mehr daran, eigene Bedürfnisse sehr zielgenau befriedigt zu bekommen. Reale, partnerschaftliche Sexualität ist demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass man sich mit dem Partner/der Partnerin abstimmen und Kompromisse schließen muss. Wenn man über Jahre eine sehr auf die eigenen Bedürfnisse ausgerichtete Sexualität gelebt hat, kann es schwierig werden sich wieder auf eine partnerschaftliche Sexualität einzulassen.
Forschung hilft, Behandlungsmöglichkeiten zu verbessern
Saskia Rößner: Wo finden Betroffene und Angehörige Hilfe?
Prof. Dr. Rudolf Stark: Glücklicherweise wird die Pornosucht inzwischen als Krankheit anerkannt. Von daher sind zunehmend mehr Beratungsstellen, aber auch niedergelassene Psychotherapeut*innen geeignete Ansprechstationen.
An der Verhaltenstherapeutischen Ambulanz der Justus-Liebig-Universität in Gießen unterhalten wir seit Jahren ein Beratungsangebot zur sexuellen Sucht und haben auch in diesem Bereich einen Behandlungsschwerpunkt (www.vt-giessen.de, E-Mail: sexsucht@vt-giessen.de). Außerdem sind wir immer auf der Suche nach Betroffenen, die bereit sind, an Studien zur Pornografie-Sucht in Gießen teilzunehmen. Diese Forschung führt mittelfristig dazu, dass die Pornografie-Sucht immer besser behandelt werden kann.