Micha (Name geändert) ist Mitte 30 und wohnt in Mittelhessen. Schon in der Grundschule gehörte das Computerspielen zu seinen Hobbies. „Am Wochenende bin ich einmal sogar um 4 Uhr früh aufgestanden, um heimlich ein paar Stunden spielen zu können bevor meine Eltern wach wurden“, erzählt Micha im Interview mit unserer Online-Redakteurin Saskia Rößner.
Bis auf die heimlichen Wochenendaktionen waren seine Spielzeiten durch die Eltern streng reguliert: Eine halbe Stunde pro Tag durfte er am Computer verbringen, mehr nicht. Ausreichend Aktivität im analogen Leben hatte Micha auch: Er war bei den Pfadfindern und als er älter wurde, übernahm er dort sogar Leitungsfunktionen, daran hatte er sehr viel Freude. Irgendwann wurde ihm das Computerspielen zu viel und er machte freiwillig fast zwei Jahre Pause.
Das erstes Online-Gruppenspiel Galaxy Wars
Das Spielen wurde für Micha wieder interessant, als sich das Internet und die Spielelandschaft weiterentwickelten. Inzwischen hatten viele Menschen eine Internetflatrate und man konnte online mit oder gegen andere Menschen spielen. Micha war mitten in der Oberstufe (11. bis 13. Klasse am Gymnasium), aber das Spielen wurde für ihn schnell interessanter als die Schule. „Ich war 18, konnte mir selbst Entschuldigungen schreiben und blieb oft fast die ganze Nacht wach, um zu spielen“, erzählt er.
Angetan hatte es ihm und seinem Schulfreund Peter (Name geändert) das Spiel Galaxywars, bei dem jede*r Spieler*in Herrscher*in eines Planeten war und um die eigene Gesellschaft weiterzuentwickeln musste man andere Planten ausrauben oder erobern. Die Anzahl der Planten war gefühlt unendlich. Das Spiel lief in Echtzeit, eine Minute in der realen Welt entsprach eine Minute im Spiel. Wenn Du nicht spielst, läuft das Spiel ohne Dich weiter.
Rückblickend weiß Micha: „Das waren verführerische Umstände: Ich wollte so oft online sein wie möglich, um keinen Angriff zu verpassen und zu den besten Spieler*innen zu gehören. Ich habe mir sogar nachts alle paar Stunden den Wecker gestellt, um zu gucken, ob alles in Ordnung ist. Ich konnte so viel spielen wie ich wollte, aber bei der großen Anzahl an Planeten gab es einfach kein Ziel, keinen Sieg, kein Ende des Spiels. Es ging immer weiter und weiter“ – bis zum Abitur. Michas Abschlusszeugnis war nicht so gut, wie es hätte sein können. Das Spiel hat zu viel Zeit geraubt, für die Schule hatte er nur noch das nötigste gemacht.
Strenge Regeln und Hierarchie bei World of Warcraft
Nach dem Abitur fühlte sich Micha erst einmal orientierungslos: Die Schulzeit war zu Ende, viele seiner Schulfreund*innen zogen zum Studieren weg. Für die Pfadfinder war er nun zu alt beruflich wusste er auch nicht, wo er stand und wo er hinwollte. Spontan schrieb er sich erstmal an der Uni in seiner Heimatstadt ein.
Dann entdeckten er und Peter World of Warcraft (WoW), ebenfalls ein Echtzeit-Spiel. „Ich spiele entweder richtig oder gar nicht“, erklärt Micha. „Gelegenheitsspielen ist für mich nur Kratzen an der Oberfläche, das macht keinen Spaß.“ Lange Zeit spielten er und Peter zu zweit, erreichten die höchste Charakter- und Schwierigkeitsstufe und spielten bis sie richtig gut waren.
Irgendwann schlossen sich die beiden einer Gilde (Gruppe) an und nach einiger Zeit nahmen sie dort Leitungspositionen ein. „Wir hatten strenge Regeln in unserer Gruppe und feste Spielzeiten, drei bis vier Mal wöchentlich von 19 bis 23 Uhr. An den anderen Tagen und zu anderen Uhrzeiten haben wir voneinander erwartet, dass jede*r selbst trainiert, um besser zu werden und sich ausgiebig auf die gemeinsame Spielzeit vorzubereiten. Ich war täglich online und hatte über dem Schreibtisch immer meinen WoW-Stundenplan hängen“, erzählt Micha.
Seinen kompletten Alltag nach dem Spiel ausrichten
Michas und Peters Gruppe hatte eine feste Mitgliederzahl. Wenn jemand ausstieg und eine Position neu besetzt werden musste, gab es Bewerbungen, Vorstellungsgespräche und Probezeiten wie bei realen Jobs. Für Außenstehende mag das absurd erscheinen, das weiß er. „Wir haben das Spiel überaus ernst genommen, wahrscheinlich zu ernst“, erklärt Micha. „In unserem WG-Kühlschrank musste alles richtig sortiert sein, damit ich nicht kostbare Sekunden beim Suchen von Nahrungsmitteln verschwende. Ich wusste, zu bestimmten Pausenzeiten habe ich Zeit, um auf Toilette zu gehen – und wehe, das Badezimmer war dann besetzt!“
Als Micha zwei Monate ins Ausland ging, um zu arbeiten, hat er einen schriftlichen Vertrag mit der Gildenleitung gemacht, um seine Position zu behalten. „Ich hatte da große Angst, meinen Rang oder den Anschluss komplett zu verlieren.“ Als er zurück nach Hause kam, hat er eine Woche lang zwölf Stunden täglich durchgespielt, um aufzuholen. „So streng es auch war, Spaß hat es gerade deswegen gemacht. Ich habe viele Gleichgesinnte kennengelernt, denen ich sonst nie begegnet wäre, und für Spielerfolge habe ich große Anerkennung bekommen.“
Nach sechs Jahren WoW: Gruppenzwang, Streit, Ausstieg
Irgendwann kam Michas und Peters Gilde im Spiel dann nicht mehr weiter, konnte eine Aufgabe nicht lösen. Die leitenden Mitspieler, darunter auch die beiden Freunde, analysierten die Spieldaten jedes Gildenmitglieds und ermahnten einzelne Spieler, härter zu trainieren. „Wir haben damit gedroht, die Leute aus unserer Gilde rauszuschmeißen, wenn sie nicht besser werden. Da war es uns egal, ob das langjährige Bekannte oder Freund*innen waren. Es zählte allein die Leistung.“
Diese Ankündigung erzeugte in der Gruppe einen schlimmen Streit, von dem sie sich nicht wieder erholte. Die Gilde wurde aufgelöst und die besten und aktivsten Nutzer*innen, darunter auch Micha und Peter, schlossen sich zu einer neuen Gruppe zusammen. Doch die Stimmung war nicht mehr so gut wie zuvor. Hinzu kam, dass Peter Angst bekam, sein Studium nicht zu schaffen. Von heute auf morgen verabschiedete er sich aus dem Spiel. Ihm folgten andere, deren reales Leben nicht mehr mit dem Onlinespiel kompatibel war.
Die Gilde löste sich noch mehrmals auf und formierte sich neu. Michas Engagement sank immer weiter, da es ohne die alt-eingeschworene Truppe nicht mehr so viel Spaß machte. Seine spielerische Leistung verschlechterte sich, sein Posten wurde an jemand anderen übergeben, sodass er keine Entscheidungsfunktion mehr inne hatte und sich den Regeln der neuen Führung unterordnen musste. Eines Tages entschied er, ganz aufzuhören.
Das Leben nach dem Spiel: Allein und Abgehängt
Plötzlich sah sich Micha dort wieder, wo er vor sechs Jahren stand. „Der Teamspeak (Audio-Gruppenchat) ist jahrelang mein Wohnzimmer gewesen. Mein Studium und die sozialen Kontakte in der realen Welt habe ich vernachlässigt. Im Spiel hatte ich genug Gleichgesinnte. Die Leute in der realen Welt erschienen mir komisch“, erzählt er. „Und wenn mir Familie oder Freund*innen gesagt haben, ich würde zu viel spielen, habe ich entgegnet, sie wüssten ja gar nicht, wovon sie reden und könnten mich nicht verstehen. Die Kritik war mir egal, die habe ich einfach ausgeblendet oder in Kauf genommen. Denn das war der Preis, den ich breit war, zu zahlen, um zu den Besten zu gehören.“
Doch allmählich kam die Einsicht und Micha fühlte sich, als habe er sechs Jahre seines Lebens verpasst. „Meine alten Freund*innen haben in der Zeit ihre Ausbildungen abgeschlossen und Karriere begonnen. Einige hatten geheiratet und Kinder bekommen. Wir hatten einfach keine gemeinsamen Interessen mehr“, erzählt er. Die erste Zeit nach seinem WoW-Ausstieg hat sich für Micha wie ein großes dunkles Loch angefühlt. Sein Leben hatte plötzlich keinen Inhalt, keinen Sinn mehr.
Heute: Leitungsrolle und Spieleabende in der realen Welt
Micha machte eine Psychotherapie und brach sein Studium ab. „Ich hatte das Gefühl, ich muss weg vom Schreibtisch, weg vom Computer, zurück in die Wirklichkeit“, erklärt er. Stattdessen begann er eine kaufmännische Ausbildung, kam unter Menschen und fand wieder Halt im realen Leben.
„Nach meiner Ausbildung hatte ich nochmal einen Rückschlag: Ich wurde nicht vom Ausbildungsbetrieb übernommen, war eine Zeit lang arbeitslos und spielte Diablo 3“, erzählt Micha. Ganz so schlimm wie bei WoW wurde es aber nicht – und Micha fand dann doch noch einen Job. Inzwischen kann er seine Erfahrungen und sein Verhalten gut reflektieren: „Meine Eltern und meine besten Freund*innen haben mich glücklicherweise nicht aufgegeben. Sie waren auch in den schweren Zeiten für mich da, obwohl ich nicht allzu viel von ihnen wissen wollte. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.“
Heute ist Micha stellvertretender Filialleiter im Einzelhandel und kann die Leitungsaufgaben, die ihm so Spaß machen, im realen Leben ausführen. Am Computer muss er nur selten arbeiten. Wenn er zuhause online ist, verbringt er mehr Zeit mit Reportagen und Dokumentationen als mit Spielen. Spieleabende veranstaltet er jetzt lieber analog mit Brettspielen. Die letzten Jahre hatte er sich gut unter Kontrolle. Seit fast einem Jahr spielt er kaum noch Computerspiele. „Aktuell gibt es einfach kein Spiel, das ich interessant genug fände“, erklärt er. Dass er noch einmal rückfällig wird, glaubt Micha nicht.
Hilfe in Deiner Nähe
So wie Micha damals, spielst Du gerne und viel – vielleicht zu viel? Du suchst eine*n persönliche*n Ansprechpartner*in in Deiner Nähe oder möchtest Dich gerne in einer Selbsthilfegruppe mit anderen Betroffenen austauschen? Hier kannst Du nach Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen oder Therapieangeboten suchen.
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