Jutta (Name geändert) wurde 1963 geboren und hat es im Leben nicht immer leicht gehabt. Schwierige Kindheit, Mutter früh gestorben, kein Glück mit Männern, Pech im Job, mehrere Erkrankungen. Es gab jedoch auch schöne Momente: Die große Liebe, ihre Kinder, ein Segelturn um die halbe Welt. Juttas Leben ist ein bisschen wie eine Achterbahn. Mal ganz oben, mal ganz unten. In den schlimmen Phasen flüchtete sie sich in die kunterbunte Welt der Medien. Die wiederkehrenden Talfahrten machten sie irgendwann depressiv. Ihr Medienkonsum wurde erst zur Routine, später zur Sucht. Wie sie wieder aus der Mediensucht heraus gekommen ist und was das mit webcare+ zu tun hat, erzählt Jutta uns im Interview.
Jutta, wie sah Deine Kindheit aus? Welche Medien hast du genutzt?
Jutta: Als ich klein war, hatten wir noch kurze Zeit einen Schwarz-Weiß-Fernseher, bevor der in Farbe aufkam. Moderne Medien wie Tablet und Handy gab es noch nicht. Um Mitternacht war im TV Sendeschluss, es wurde das sogenannte Testbild geschaltet. Danach ging es ab ins Bett.
Wenn meine Eltern ausgegangen sind, saß ich abends bis zu vier Stunden alleine im Wohnzimmer und schaute fern, nachmittags konnten es nochmal ebenso viele Stunden werden. So konnte ich mich wunderbar von der Realität ablenken.
Unter Gleichaltrigen war ich eine Außenseiterin. Ich wurde von meiner Mutter isoliert. Sie litt an unerkannten Angststörungen und – wie sich sehr viel später herausstellte – an manischen Depressionen. Sie war jahrzehntelang medikamentös falsch behandelt worden und hatte eine Medikamentensucht entwickelt. Mein Vater war alkoholabhängig.
Du bist um die halbe Welt gesegelt. Wie ist es dazu gekommen?
Jutta: Für meine Berufsausbildung zog ich von zuhause aus. Während meiner Ausbildungszeit starb meine Mutter – unerwartet und viel zu früh. Das hat mich sehr mitgenommen. Von meiner Familie bekam ich nicht die erhoffte seelische Unterstützung.
Nach meiner Ausbildung lernte ich einen älteren Mann kennen, der Mitreisende für eine Segeltour suchte. Er wollte den Atlantik überqueren, von Belgien in die Karibik. Ich war Feuer und Flamme – für den Mann und die Reise! Meiner Familie war zwar gar nicht wohl dabei, aber ich segelte trotzdem mit. Ich wollte einfach nur noch weg! Wir waren etwa ein Jahr unterwegs, haben viele traumhafte Orte gesehen. An das Fernsehen habe ich da keinen einzigen Gedanken verschwendet.
Doch irgendwann war mein Geld aufgebraucht und meine Beziehung zu dem Mann wurde auch immer komplizierter. Ich ging zurück nach Deutschland, um zu arbeiten. Mein erster Job war die Hölle. Ich kündigte dort schnell wieder. Anschließend arbeitete ich mal hier, mal dort. Ich hatte mal Minijobs, mal Teilzeitstellen, manchmal musste ich auch längere Zeit nach einer Arbeit suchen.
Mit dem nächsten Mann war Dein Glück ebenfalls nicht von großer Dauer, wieso?
Jutta: Er ist die Liebe meines Lebens. Wir heirateten relativ bald und bekamen zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Irgendwann fing mein Mann an, sich seltsam zu verhalten. Ich dachte, er käme nicht mit unserem Sohn zurecht, weil dieser viel weinte und schrie. Nach einem Zwischenfall bekam ich Angst und zog mit den Kindern aus.
Nach neun Monaten erfuhr ich, dass mein Mann an einer Erbkrankheit gestorben war. Vermutlich hatte er sich deshalb so seltsam verhalten. Ich musste zurück in unser Haus ziehen und mich um die Nachlassverwaltung kümmern. Der Verkauf des Hauses hat 1,5 Jahre gedauert. Erst danach konnten wir in eine neue Wohnung ziehen.
Einen Fernseher hattest Du in all der Zeit nicht. Hast Du ihn gar nicht vermisst?
Jutta: Ich habe mich lange dagegen gewehrt, einen Fernseher zu kaufen. Ich konnte mich noch sehr gut daran erinnern, wie viele Stunden meiner Kindheit ich damit verschwendet habe. Als meine Kinder in der Grundschule waren, ließ ich mich dann doch zum Kauf hinreißen. Es war 2006, da war Fußball-WM in Deutschland. Meine Kinder sollten in der Schule mitreden können.
Mit Kindererziehung hatte ich keinerlei Erfahrung. Nur eine Schwester von mir hatte weit vor mir einen Sohn bekommen. Die anderen waren kinderlos. Meine Eltern hatten ein Kindermädchen für uns. Ich bekam immer nur zu hören: „Du musst ruhig sein, deiner Mama geht es nicht gut.“ Nun war ich es, die an Erschöpfung litt und keine Kraft für die quirligen Kinder hatte. Ich parkte sie oft stundenlang vor dem Fernseher – und mich gleich mit.
Ich war außerdem einsam. Depression überfordert andere Menschen schnell. Meine Freund*innen zogen sich von mir zurück. Mein Trost: Der Fernseher. Mit Blick auf den Bildschirm vergaß ich meine Sorgen und auch die Zeit. Statt einzukaufen und zu kochen, bestellte ich für uns häufig Essen beim Lieferservice.
Wie war es für dich, als Du Dein erstes Smartphone bekamst?
Jutta: Ich entdeckte kostenfreie Online-Spiele. Fortan war das meine neue Lieblingsbeschäftigung. Ich spielte schon morgens vor der Arbeit am Handy. Während der Arbeitszeit dachte ich ständig daran, das Spiel endlich fortsetzen zu wollen. Nach der Arbeit fuhr ich nicht direkt zu meinen Kindern, sondern auf einen Parkplatz, um zu spielen.
Daheim sah ich mir Romantikfilme an, einen nach den anderen. Ich hatte einfach kein Glück mit Männern und ertränkte meine Sehnsüchte in Filmen aus der Online-Mediathek.
An manchen Tagen habe ich bis zu zwölf Stunden online verbracht. Kostenfreie Spiele wie Solitär, Dice, Geschicklichkeits- und Denk-Spiele mochte ich am liebsten. Geld ausgeben wollte ich nicht. Ich hatte zu viel Angst davor, mich zu verschulden. Ich trug ja die alleinige Verantwortung für meine Kinder. Die beiden litten trotzdem unter der Situation. Ich war oft unausgeglichen und hatte manchmal richtige Wutausbrüche.
Das Thema Mediensucht kam in Deinen Therapien erst spät auf, warum?
Jutta: Ich hatte schon mehrere Therapien gemacht, aber nichts speziell zu Sucht. Ich hatte zwar einmal mit einer Therapeutin darüber gesprochen, aber sie hat meinen Medienkonsum wohl unterschätzt.
Später machte ich dann doch eine Reha in einer Suchtklinik. Dort lernte ich zum ersten Mal Menschen kennen, die ebenfalls spielsüchtig waren. Es dauerte etwas, bis wir einander verstanden, denn die anderen waren überwiegend süchtig nach Spielautomaten. Sie konnten sich nicht sofort in mich Medienabhängige hineinversetzen – und ich nicht in sie. Doch die Kontakte taten mir gut. Ich konnte endlich offen über mein Fehlverhalten reden, ohne verurteilt zu werden. Wir saßen ja alle im selben Boot.
In der Suchtklinik war das Programm äußerst abwechslungsreich: Infovorträge, Einzel- und Gruppengespräche, Musik- und Maltherapie. In der Reha haben wir auch viel Sport gemacht. Das hat mir sehr geholfen. Ich saß ja jahrelang fast nur vorm Bildschirm. Ich hatte auch eine Krankheit und musste operiert werden. Der Sport hat mir neue Kraft gegeben – körperlich und mental.
Die Zeit in der Suchtklinik war sehr wichtig für mich!
Wie bist Du zu WebC@RE, der Vorgängerin von webcare+, gekommen?
Jutta: Nach meiner Therapie wollte ich weiterhin mit anderen Betroffenen in Kontakt bleiben. In meiner Stadt gab es aber keine Gruppe für Mediensüchtige. Ich versuchte, selbst eine Selbsthilfegruppe zu gründen, ohne Erfolg. Ich besuchte dann erstmal eine Gruppe für Alkoholabhängige. Verschiedene Süchte mögen ähnlich sein, aber dennoch unterschiedlich. Die Freundlichkeit und das Ermutigen in der Gruppe taten mir gut, jedoch fehlte mir jemand, der mich so voll und ganz verstehen konnte.
Im Jahr 2016 entdeckte ich dann die virtuelle Selbsthilfegruppe von WebC@RE mit Patrick Durner. Diese anonymen Online-Gespräche mit anderen Betroffenen taten mir sehr gut. Leider wurde die virtuelle Selbsthilfegruppe Ende 2017 geschlossen.
Du bist noch einmal in die Mediensucht zurückgefallen, warum?
Jutta: Nach der Suchtklinik kam ich in eine Situation zurück, die sich nicht groß verändert hatte. Dazu kam, dass ich da etwa so alt wie meine Mutter war, als sie starb. Ich hatte Angst, mir könnte dasselbe passieren. Ich war müde, nach einer neuen Selbsthilfegruppe zu suchen, die zu mir passte. Und für eine Sportgruppe reichte mein Geld nicht. Auch bei der Arbeit gab es wieder Probleme.
Ich fühlte mich als Versagerin, fing wieder an zu spielen und mein Spielen bestätigte mich als Erfolglose. Ich schaffte es immer nur bis zu einem bestimmten Level, dann war Schluss. Dass ich mir mit diesem erfolglosen Spielen beweisen wollte, dass ich eine Versagerin auf allen Gebieten bin, verstand ich aber erst später.
Du hast dann Hilfe in einer Tagesklinik gesucht. Wie hat sich das von deinen anderen Therapien unterschieden?
Jutta: Hier lernte ich, positiv auf mein Leben zurück zu blicken. Ich habe meine emotionalen Krisen überwunden und bin um etliche Erfahrungen reicher geworden. Ich habe trotz der vielen Widrigkeiten nie meinen Lebenswillen verloren. Ich habe es geschafft, ohne Mann zwei tolle Kinder großzuziehen. Aus ihnen sind eigenständige, bescheidene, sensitive und intelligente Erwachsene geworden, die nun ihren eigenen Weg gehen.
Ich habe den Mut aufgebracht, mir Hilfe zu suchen – nicht nur einmal. Ich habe mich getraut, Therapien, Psychiatrien, Selbsthilfegruppen und eine Suchtklinik zu besuchen. Und ich war mutig genug, dieses Interview hier mitzumachen.
Ich schaue jetzt optimistisch in meine Zukunft. Ich freue mich darauf, wenn ich meinen Mann wiedersehen werde, irgendwann, wenn meine Zeit auf dieser Erde zu Ende ist. Bis dahin übe ich mich in neuen Hobbies, unterstütze meine Kinder, verbringe Zeit mit neu gewonnenen Freund*innen und ehrenamtlichen Tätigkeiten.
Besuchst du immer noch eine Selbsthilfegruppe, um deine Mediensucht unter Kontrolle zu halten?
Jutta: Ich bin seit einem Jahr in einer Gruppe für Depressionen, Angst und Panik. Dort erfahre ich viel Zuspruch und Verständnis. Oft erlebe ich, wie ich andere mit meiner Geschichte stärken kann. Deswegen war es mir auch ein Herzensanliegen, meine Erfahrungen mit den Leser*innen von webcare+ zu teilen.
Onlinespiele sind inzwischen ein absolutes Tabu.
Das Verlangen nach der sinnlosen Spielerei hat nachgelassen. Noch immer kommen jedoch Gedanken wie „ich könnte doch“. Dann sage ich aber „nein“ und „haut ab“! Ich lenke meine Gewohnheiten um: Beten, Bücher lesen, malen oder Musik machen.
Wenn ich mir in der Mediathek etwas ansehe, dann reicht mir ein Film oder eine Folge einer Serie. Mein Leben ist zu interessant geworden. Ich brauche keinen Online-Ersatz für Einsamkeit mehr.
Wenn sich hin und wieder Einsamkeit meldet, gehört sie jetzt einfach zu meinem Leben dazu, wie auch Freude, Erfüllung, Langeweile, Furcht, Hoffnung – eben die Fülle eines Lebens auf dieser Erde.