Machen Computerspiele aggressiv? Diese Frage geistert schon seit langem durch die öffentliche Diskussion. Oder vielleicht sollte man es lieber öffentliche Debatte nennen. Denn scheinbar gibt es in dieser Angelegenheit nur zwei Positionen: Die eine diskreditiert gewalthaltige Videospiele als Teufelswerkzeug. Wer sogenannte „Killerspiele“ spielt, werde früher oder später auch im analogen Leben gewalttätig, wenn vielleicht auch nicht direkt bei einem Amoklauf. Die andere Seite meint, digitale Spiele hätten überhaupt nichts mit Aggression zu tun. Es sei doch nur ein harmloses Spiel, ganz egal was da auf dem Bildschirm flimmert. Es scheint, als stünden sich diese Lager eisern gegenüber, als seien die Fronten hart wie Stein, gegenseitiges Verständnis nicht in Sicht.
Webcare+ hat dieses Thema schon lange auf dem Schirm. Dass es dazu bisher noch keinen Blogbeitrag gab, hat vor allem zwei Gründe. Erstens liegt das Thema Gewalt nicht unmittelbar im Schwerpunktbereich des Projektes. Bei webcare+ geht es vor allem um Medienkompetenz, Mediensucht und Selbsthilfe. Natürlich ließe sich da irgendwie ein Bogen zu aggressivem Verhalten durch Computerspiele spannen. Aber Kern der Sache ist es nicht. Zweitens ist das Thema Gewalt durch Games ein so großes, dass es für ein kleines Projekt wie webcare+ schwierig ist, die gesamte wissenschaftliche Forschung dazu zu überblicken, durchzuarbeiten und für die Leser*innen verständlich aufzuarbeiten.
Den Wald vor lauter Bäumen…
Ein Überblick über die Forschung
Glücklicherweise gibt es da draußen Menschen, die in das große Chaos von hunderten Studien etwas Ordnung bringen. Das sind zum einen Forschungsteams, die in mühevoller Kleinarbeit dutzende Studien recherchieren, lesen, auswerten, vergleichen und daraus ein aussagekräftigeres Fazit ziehen, als eine Einzelstudie das tun kann. Die Rede ist von sogenannten Meta-Studien, alles voran von den US-amerikanischen Forschungsteams um Craig A. Anderson und Christopher J. Ferguson. Die Links zu ihren jüngsten Meta-Studien findest Du am Ende dieses Blogartikels. Schade nur, dass die unterschiedlichen Meta-Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Wie kann das sein?
In einer neuen Podcastfolge hat das Team von Behind the Screens erklärt, warum die Wissenschaft bei diesem Thema so ihre Schwierigkeiten hat. Auch generelle Schwächen psychologischer Forschung wurden beleuchtet. In der vorangehenden Folge wurde nachgezeichnet, wie die Idee von Aggression durch Videospiele überhaupt entstanden ist und welche Theorien dahinterstecken. Für diese Doppelfolge kann webcare+ eine klare Hörempfehlung aussprechen. In aller Kürze wollen wir die zentralen Aussagen zur Frage „Können Computerspiele aggressiv machen?“ aber auch hier im Blogartikel für Dich zusammenfassen.
Warum könnten Computerspiele aggressiv machen?
Wie kommt man überhaupt auf die Idee, dass digitale Spiele gewalttätig machen könnten? Für manch Spielende mag das absurd erscheinen, andere wittern vielleicht einen Hauch des Möglichen in so einer Behauptung. Das ein oder andere Elternteil wird sich womöglich denken, natürlich ist das so. Dabei erinnern sie sich vermutlich an solche Momente, in denen ihre Kinder den Controller durch das Zimmer fliegen ließen, weil sie zum x-ten Mal in Folge Game Over auf dem Bildschirm prangt.
Von gefühlten Wahrheiten zur Wissenschaft: In der Psychologie gibt es mehrere Theorien, wie sich das Spielen von gewalthaltigen Videospielen auf unser Verhalten auswirken könnte. Hier ein kurzer (und verkürzter) Überblick, den Du detaillierter bei Behind the Screens nachhören kannst.
Theorien zu kurzfristigen Effekten auf unser Verhalten:
- Stimulationsthese: Beim Spielen von gewalthaltigen Computerspielen empfinde ich oft Aggressionen. Je öfter ich spiele, desto stärker verfestigt sich dieses Gefühl in meinem Gehirn.
- Erregungsthese: Das Spielen von Computerspielen erhöht das Erregungsniveau unseres Gehirns. Ist unser Gehirn aufgeregt, ist aggressives Verhalten wahrscheinlicher als in einem unaufgeregten Zustand.
Theorien zu langfristigen Effekten auf unser Verhalten:
- Habituierungsthese: Das häufige Spielen von gewalthaltigen Spielen gewöhnt mich an Gewalthandlungen. Ich reagiere mit der Zeit weniger stark auf gewalthaltige Inhalte (z.B. Ekel oder Furcht). Meine Hemmschwelle, mich in gewalttätige Situationen zu begeben, sinkt.
- Sozial-kognitive Lerntheorie: In gewalthaltigen Computerspielen werde ich häufig dafür belohnt, wenn ich anderen Personen gegenüber Gewalt anwende. Das könnte dazu führen, dass ich auch im analogen Leben erwarte, dass auf gewalttätige Handlungen positives Feedback folgt.
- Skripttheorie: Ich habe in Videospielen gelernt, dass Konflikte sich durch Gewalt lösen lassen. Im analogen Leben kann es daher sein, dass dieses Problemlösungsverhalten bei mir automatisch abläuft.
Diese Thesen lassen sich auch alle in ein Model zusammenfassen, das sich „General Aggression Model“ nennt. Theorie hin oder her. Aber was ist mit der Praxis? Was in den Büchern einer psychologischen Bibliothek steht, muss ja nicht zwangsläufig auch der Realität entsprechen. Die oben aufgeführten Theorien müssen daher auf Herz und Nieren geprüft werden. Das ist möglich mit wissenschaftlichen Forschungsprojekten.
Aggression durch Games: Theoretisch ja, aber praktisch?
Wie oben schon erwähnt, gibt es inzwischen hunderte Studien zu der Frage, ob Computerspiele aggressiv machen oder nicht. Ebenfalls oben erwähnt wurde, dass die zahlreichen Studien nicht zu einem einheitlichen Ergebnis kommen. Das liegt unter anderem daran, dass die einzelnen Studien unterschiedliche Methoden nutzen. Bei verschiedenen Metastudien werden nicht immer dieselben Einzelstudien einbezogen. So kommen Studien, die dieselbe Frage untersuchen, zu unterschiedlichen Ergebnissen. Trotzdem gibt es eine Tendenz, die in der Summe der Studien ersichtlich wird.
In psychologischen Forschungen wird der Zusammenhang zwischen zwei Faktoren (hier gewalthaltige Computerspiele und aggressives Verhalten) in der Regel zwischen 0 und 1. Null heißt, es gibt keinen Zusammenhang. Eins heißt, es gibt einen eindeutigen Zusammenhang. Dazwischen liegen Ergebnisse wie 0,1 oder 0,25 oder 0,8 – je nachdem wie stark der Zusammenhang ist. Dabei gilt: Je höher die Zahl, desto stärker ist der Zusammenhang. Forschungsergebnissen unter 0,1 betrachtet die Wissenschaft in der Regel als nicht relevant. Das heißt, der Zusammenhang ist zu gering und könnte auch nur zufällig entstanden sein. Das Ergebnis ist nicht aussagekräftig genug.
Im Fall von Videospielen und Aggression liegt der Zusammenhang meist bei etwa 0,15 – so Behind the Screens. Das heißt, hier besteht ein zwar relevanter, aber nur sehr geringer Zusammenhang.
Gewalttätig durch Computerspiele? Ein Fazit…
Machen gewalthaltige Computerspiele aggressiv? Oder ist und bleibt es doch nur Spiel? Zu den beiden Extrempositionen aus der Einleitung dieses Blogbeitrags lässt sich folgendes sagen: Sie haben beide ein bisschen Recht. Wie so oft liegt die Wahrheit scheinbar irgendwo dazwischen. Das Team von Behind the Screens warnt jedoch davor, hier von Wahrheitsfindung zu sprechen, da wissenschaftlichen Forschungsprojekte immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit untersuchen können. Zudem steckt die Forschung zu digitalen Medien nach wie vor immer noch in den Kinderschuhen. Es gibt noch viele offene Fragen, die die Wissenschaft zukünftig zu klären hat. Ein paar Thesen können wir dennoch festhalten:
- Gewalthaltige Computerspiele können einen geringen Einfluss auf unser Aggressionsverhalten haben. Das ein statistischer Zusammenhang besteht, heißt jedoch nicht, dass dies auf jede*n einzelne*e Spieler*in zutrifft.
- Die Aussage, Computerspiele hätten in dieser Hinsicht gar keinen Einfluss auf unser Verhalten, ist wahrscheinlich nicht haltbar.
- Die Aussage, Computerspiele hätten in dieser Hinsicht einen großen Einfluss auf unser Verhalten, ist wahrscheinlich ebenfalls nicht haltbar.
- Computerspiele haben einen weniger starken Einfluss auf aggressives Verhalten als beispielsweise bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder genetische Veranlagungen.
- Ein Computerspiel kann allein nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass jemand gewalttätig wird. Dazu braucht es (wie bei der Entstehung einer Computerspielsucht) mehrere Faktoren.
Mehr zum Thema Gewalt und Videospiele
- American Psychological Association (2015): APA Task Force On Violent Media – Technical Report On The Review Of The Violent Video Game Literature
- Ferguson (2007): Evidence for publication bias in video game violence effects literature: A meta-analytic review
- Anderson (2010): Violent Video Game Effects on Aggression, Empathy, and Prosocial Behavior in Eastern and Western Countries: A Meta-Analytic Review
- Behind the Screens Podcastfolgen zur Frage „Machen Games aggressiv?“ Teil 1 | Teil 2