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Mann macht ein Selfie von sich und einem Affen.

Foto: rkrandhir/pixabay

Das Selfie zwischen Kunst, Kritik und Wissenschaft

23 April 2020

Lesezeit 8 Minuten

Hand aufs Herz: Wer von uns hat noch nie ein Selfie von sich gemacht? Gefühlte Wahrheit: Jede*r kennt Selfies, jede*r macht Selfies – auch, wenn sie vielleicht nicht immer öffentlich gepostet werden. Das Selfie ist als Forschungsobjekt auch in der Wissenschaft angekommen. Seit 2018 gibt es sogar ein Selfie-Forschungsnetzwerk in Deutschland – unter dem Dach des Zentrums für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft (zem::dg). Das wollten wir uns einmal genauer ansehen und haben zwei Mitglieder des Forschungsnetzwerkes interviewt.

Kristina Steimer ist Doktorandin am Lehrstuhl für Medienethik der Hochschule für Philosophie München. Seit Mai 2018 ist sie als freie Forschungsmitarbeiterin am zem::dg tätig und gründete dort auch das Selfie-Forschungsnetzwerk. Katrin S. Kürzinger arbeitet an der Evangelische Akademie im Rheinland. Sie ist Studienleiterin des Themenbereichs Arbeit und Wirtschaft mit Schwerpunkt Zukunft der Arbeit und Digitalisierung.

Seit wann gibt es Selfie-Forschung?

Katrin S. Kürzinger: Die Selfie-Forschung ist fast so alt wie das Phänomen selbst. Erste Studien und Veröffentlichungen beginnen etwa 2012.

Kristina Steimer: Interessant ist der Zeit-Gap. Das erste tatsächlich auch als „Selfie“ bezeichnete Foto gab es 2002 auf einer australischen Online-Plattform. Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf das Phänomen ist spätestens sichtbar seit 2013, als „Selfie“ vom Oxford Dictionary zum Word of the Year gekürt wurde. Dazwischen liegen 11 Jahre. Wir sehen die Etablierung einer Kommunikationsform und Ausdrucksform, die zuerst vereinzelt auftrat. Heute ist sie aus der digitalen Medienlandschaft breitflächig nicht mehr wegzudenken. Das Genre Selfie scheint auf digital-soziale Dynamiken zu antworten, die mehr und mehr Thema der Einzelnen, aber auch der Öffentlichkeit werden.

Was macht das Selfie-Forschungsnetzwerk?

Kristina Steimer: Das Netzwerk will verschiedene Fächer aus der Selfie-Forschung zusammenbringen:

  • Geisteswissenschaftlich orientierte Selfie-Forschung wie Philosophie oder Medienwissenschaften
  • Kultur- oder Kunstwissenschaften
  • Computer- oder Wirtschaftswissenschaften
  • Pädagogik

Sie alle bringen ihre spezifischen Perspektiven auf den Forschungsgegenstand mit und können damit auch eine Diversität an Fragestellungen, Methoden und Perspektiven abbilden. Die Disziplinen sollen hier in einem offenen und zugleich (selbst-) strukturierten Rahmen zusammengebracht werden, um sich gegenseitig austauschen zu können. Eventuell können daraus sogar neue Forschungsprojekte wachsen.

Die digitalen Medien und damit auch das Selfie verändern sich durch technische Weiterentwicklung derart schnell. Das Phänomen spielt außerdem in so viele Ebenen hinein: Individuell, gemeinschaftlich, gesellschaftlich und politisch. Nur ein flexibler interdisziplinärer Austausch kann dieser verdichteten und beschleunigten Kommunikationsform gerecht werden.

Zwei Frauen machen ein Selfie im Kornfeld.

Foto: Ben_Kerckx/Pixabay

Welche interessanten Forschungsprojekte gibt es aktuell zu Selfies?

Katrin S. Kürzinger: Ich habe mich hauptsächlich damit beschäftigt, wie man mit Jugendlichen aber auch schon mit Kindern im Grundschulalter mit Selfies und Selbstporträts zu Identität arbeiten kann. Außerdem lassen sich mit Selfies auch ganze Beziehungsnetzwerke abbilden, indem man durch das eigene Smartphone scrollt und mal schaut, mit welchen Personen habe ich ganz viele gemeinsame Selfies und welche für mich wichtige Personen fehlen aber auch auf meinen Selfies?

Kristina Steimer: Es gibt wirklich viele spannende Zugriffe auf das Phänomen vonseiten verschiedenster Fachbereiche. Angesichts der immer noch rege geführten öffentlichen Debatte, ob Selfies jetzt eigentlich narzisstisch oder emanzipatorisch oder beides sind, und ob das jetzt für oder gegen „den guten Ton der Gegenwartsgesellschaft“ spricht, finde ich die kulturhistorische Rekonstruktion der Erfolgsstory des Genres sehr interessant.

Zum Beispiel was Wissenschaftler an der EHESS (Paris) erforschen: Dass es nämlich gerade die moralisch empörte Medienkontroverse um das Selfie war, die es zur progressiven Subkultur machte. Die Frage ist natürlich, wo ist die Progressivität heute hin?

Auch Robot Selfies zu analysieren, wie es Wissenschaftler an der ifs (Köln) tun, kann aufschlussreiche Erkenntnisse über die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine geben – ein wichtiges Thema in Zeiten von KI und zahlreichen Smart-Geräte-Generationen.

Ich selbst untersuche in meiner Forschung das Selfie daraufhin, inwiefern es dafür steht, unter welchen technischen, politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt ideellen Bedingungen wir heute unsere grundlegend existenziellen Selbst- und Weltbezüge gestalten. Wie versuchen wir, auf die permanente Aufforderung „Sei du selbst!“ möglichst produktiv zu reagieren. Und was macht es mit uns, wenn wir dabei scheitern?

Welche Forschungsergebnisse rund um das Selfie fanden Sie bisher am erstaunlichsten?

Katrin S. Kürzinger: Ob und inwiefern Selfies und Glück zusammenhängen oder nicht. Aus den Ergebnissen der internationalen Selfie-City-Studie von Lev Manovich (zu finden unter selfiecity.net) wurde geschlossen, dass die Menschen in Bangkok glücklicher seien als in Moskau, und zwar weil sie auf Selfies mehr lächelten. Das erscheint doch recht fragwürdig.

Ich habe deshalb selbst eine Studie mit Jugendlichen durchgeführt und sie in Interviews dazu befragt, ob es einen Zusammenhang zwischen Selfies und Glück gibt. Zum einen bestätigten Jugendliche, dass sie nur Selfies von sich schießen und posten, wenn sie gerade glücklich oder gut drauf sind. Übrigens auch ein Grund, warum es in der Tat kaum oder gar keine Selfies von weinenden Menschen gibt. Andererseits erzählten einige Jugendliche auch, dass sie für Selfies schon extra gelächelt haben, obwohl es ihnen in diesem Moment gerade alles andere als gut ging. Begründet wurde das mit: „Ich finde, auf Selfies lächelt man einfach!“. Das zeigt ganz deutlich, dass Selfies auch normierend wirken.

Was hat es mit der Selfitis auf sich? Ist das wirklich eine Krankheit?

Kristina Steimer: Die Wortneuschöpfung Selfitis begegnet mir in der Selfie-Forschung tatsächlich eher weniger, obwohl das Selfie als Forschungsgegenstand hier schon sehr kritisch in allen seinen Ebenen, in die es hineinspielt (Identität, Technik, Gesellschaft usw.) erforscht wird.

Selfitis meint, dass ein Mensch süchtig danach ist, Selfies zu machen, und zwar in dem Ausmaß einer wirklichen psychischen Erkrankung.

Die Sucht als übersteigertes Verlangen nach etwas auf das Selfie zu beziehen, zeigt, wie sehr dem Genre ein Wertegefälle mit enormer Fallhöhe (von Empowerment bis hin zur psychischen Störung) innewohnt: Welches ist das richtige, das gesunde Maß, und an welchen Index legen wir dieses Maß an? Nun wäre ich erst einmal vorsichtig, solche Begriffe aus Psychologie bzw. Psychiatrie unreflektiert inflationär zu benutzen, und damit die Komplexität der Psyche eines einzelnen Menschen an eine spezifische Kommunikationsform zu koppeln. Zugriffe auf das selbstverständlich wichtige Thema verschiedener Pathologien der Mediennutzung und des Selbstausdrucks, die dann aber vorschnell eine Generation, ein Geschlecht, eine Plattform oder ein Tool zum degenerierten Negativ-Beispiel erklären, befriedigen mit einer einfachen Antwort vielleicht kurzfristig die Angst davor, was der Einfluss der Technik mit uns macht.

Smartphone an einem Selfie-Stick.

Foto: Steve Gale/Unsplash

Auch der medienwirksame Ausruf einer „narzisstischen Epidemie“ (Twenge und andere) ist ein Beispiel dafür. Wir müssen aber dringend unterscheiden zwischen einem normalen entwicklungspsychologischen Narzissmus und einem pathologischen Narzissmus. Pauschalisierende (Zeit-) Diagnosen sind eine Kapitulation vor den komplexen Anforderungen des Phänomens. Wir müssen es aushalten, Probleme zu differenzieren, und sie im Zuge dessen ernst nehmen.

Beschäftigt sich die Selfie-Forschung denn auch mit dem Thema Sucht?

Kristina Steimer: Wir erleben gerade, wer ich online bin, was ich online tue, mit wem ich online interagiere, das hat wirklich mit mir zu tun . Es ist keine Realität zweiter Ordnung, in der ich zum Beispiel Identitäten nur anprobiere. Insofern haben Selfies natürlich auch Einfluss auf unser Selbstbild – genauso, und das ist mit entscheidend, aber auch andersherum. Die Selfie-Dsymorphie, wie das operative Angleichen des Äußeren an das Erscheinungsbild, das ein gefiltertes Selfie als Foto aufweist, in der medialen Diskussion genannt wird, benennt natürlich ein Problem, das es ernst zu nehmen gilt. Aber dieses Problem scheint mir eigentlich nicht im Selfie selbst zu liegen.

Wo könnte das Problem denn stattdessen liegen?

Kristina Steimer: Ertragreicher, um solche Pathologien wirklich zu verstehen und ihnen dann effektiv entgegenwirken zu können, wäre es doch, zu fragen, welches Selbstbild dem Selfie-Machen bereits vorausgegangen ist und wozu ein Selfie gemacht wurde. Welche Motivation und Erwartung, welche Idee stehen dahinter?

Es gibt eine sehr interessante Studie aus der Schweiz, die zeigt, dass der digitale Medienalltag Heranwachsender sich vor allem durch Werte-Dilemmata auszeichnet: Besonders im Hinblick auf soziale Beziehungen und Zeit gilt, dass die Risiken nicht vermieden werden können ohne damit die Chancen zu verlieren. Das Smartphone wirkt sich demnach sowohl positiv als auch negativ auf soziale Beziehungen (Kontakte halten vs. Erwartungsdruck) und Zeit (Beschäftigung gegen Langeweile vs. Zeitverschwendung) aus. Wäre es also nicht vielleicht plausibler, die Ursachen für die Überforderung an und den Leidensdruck unter z.B. Selfies, Social Media oder allgemein Smartphones in dem Umstand zu suchen, dass wir permanent  konkurrierende Werte austarieren müssen?

Reliable Zusammenhänge zwischen psychischer Gesundheit und spezifischer Mediennutzung sind, trotz vieler Studien und Untersuchungen, einfach nicht so leicht festzustellen. Was mittlerweile als gesichert gelten kann, ist, dass die aktive Nutzung von Social Media bei psychisch gesunden Nutzer*innen tatsächlich zum Wohlbefinden beiträgt, da sie die soziale Einbindung unterstützt. Hingegen zieht wohl die passive Nutzung, in der vor allem soziale Vergleiche stattfinden ohne sich selbst aktiv einzubringen, eher negative Affekte aufs subjektive Wohlbefinden nach sich (zum Beispiel Vergleichsstudie Verduyn et al. 2017 oder Viera Pirker in: Communicatio Socialis 51, 2018, 4).

Also können Selfies unsere Gesundheit beeinflussen?

Katrin S. Kürzinger: Selfies sind in erster Linie ein Abbild einer Person. Als solches zeigen sie natürlich immer nur einen Ausschnitt einer Person, nie jedoch die gesamte Persönlichkeit. Selbst alle Selfies ein- und derselben Person könnten die Persönlichkeit eines Menschen niemals in aller Vollständigkeit abbilden.

Katrin S. Kürzinger: Aber Selfies sind inzwischen in der Alltagskommunikation insbesondere bei jungen Leuten ein gängiges Ausdrucks- und Kommunikationsmittel. Daher kann man mit Selfies ganz wunderbar mit Kindern und Jugendlichen zu Themen wie Schönheits- und Körperideale arbeiten. Pädagogisch wertvoll ist dabei vor allem der konkrete Lebensweltbezug, da man die Themen nicht von außen an die junge Generation heranträgt. Stattdessen stecken diese Themen schon im Selfiephänomen drin. Beispielsweise kann man auch gemeinsam überlegen, an welchen Orten es ein No-Go ist, Selfies zu schießen und warum.

Zwei Frauen machen ein Selfie von sich auf einer Brücke.

Foto: Schwerdhoefer/Pixabay

Was hat es mit dem Trend der Instagram-Museen auf sich? Wie lässt sich dieser aus der Perspektive der Selfie-Forschung erklären?

Kristina Steimer: Der Bezug ist spannend, denn es gibt innerhalb der Selfie-Forschung tatsächlich eine Debatte darüber, ob Selfies primär Kommunikationsmittel sind oder in die bildhistorische Denklinie des Selbstporträts eingeordnet werden sollten. Für beides lassen sich gute Gründe anführen.

Nimmt man einmal an, dass Selfies die zeitgenössische Form des Selbstporträts sind, und das Genre sozusagen in die liberalistische Auffassung übersetzen, dass keiner außer mir selbst die Macht über mein eigenes Bild hat. Ich entscheide, wie ich mich wem, wann, wo zeige – unabhängig von traditionell etablierten Hierarchien, die an meiner Stelle entscheiden, ob mein Selbstbild öffentlich sichtbar wird oder nicht. Dann könnte man dem Trend – über seinen offensichtlichen Charakter eines gewitzten Geschäftsmodells hinaus – etwas Substanzvolleres abgewinnen. Hier werden zwei Strukturmerkmale der Gegenwartsgesellschaft kombiniert: Mobilität (die Museumskulissen sind nicht von Dauer) und Kreativität.

Man könnte den Trend auch als konsequentes Weiterdenken der ohnehin schon länger diskutierten Frage um Authentizität verstehen, ob nämlich Menschen, die an jedem Ort erstmal Selfies machen, ihre Umwelt primär nur noch als Kulisse für die eigene Inszenierung wahrnehmen. Der Trend würde dann erlauben, das wegzulassen, was angeblich ohnehin schon überflüssig war. Auch hier muss aus Forschungsperspektive aber wieder kritisch eingeworfen werden, dass es Authentizität ohne Inszenierung nicht gibt und andersherum.

An wen können sich Interessierte wenden, wenn sie mehr über Selfie-Forschung erfahren wollen?

Katrin S. Kürzinger: An uns beide! 😉

Kristina Steimer: Gerne! Und natürlich auch an das Forschungsnetzwerk, es gibt eine Mailingliste und auch eine Website, auf der wir über kommende geplante Veranstaltungen, zum Beispiel Workshops in Form von BarCamps, auf dem Laufenden halten.

Testbild eines Fernsehers Mediensucht: Die Suche nach Liebe, Glück und Anerkennung Programmiersprache. Ein Bildschirm voller Nullen und Einsen. In der Mitte sind einige Nullen Einsen rot gefärbt und bilden zusammen ein Herz. Digitale Ethik: Wie können wir im Internet gut miteinander leben?
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