Den Begriff „Selfitis“ prägte zunächst ein Satire-Magazin. Beschreiben sollte er das allgegenwärtige Verhalten vieler Menschen, die ständig und überall mit ihrem Smartphone Fotos von sich selbst – Selfies – machen. Selfies machen und Selfies posten diene dem Ziel, das eigene Selbstwertgefühl zu verbessern und eine Lücke von Intimität zu füllen.
Es wurden sogar drei Level der Selfitis benannt:
- borderline – mindestens drei Selfies pro Tag machen ohne sie online zu stellen
- acute – mindestens drei Selfies pro Tag machen und alle posten
- chronic – unkontrollierbarer Drang Selfies zu machen und zu posten, > sechs mal am Tag
Die Story wurde in den Medien fleißig weiter verbreitet.
Von der Satire zur Wissenschaft
Die Wissenschaftler agierten in diesem Fall nicht unabhängig von der Satire, sondern ließen sich sogar von dieser inspirieren. Die im Beitrag des Satire-Magazins genannten drei Level haben eine hohe Augenschein-Validität und genau diese wurden in der Studie geprüft.
Die Wissenschaftler
Balakrishnan und Griffith haben die „Selfitis Behavior Scale“ entwickelt, eine Skala zur Selbsteinschätzung des Verhaltens, Fotos von sich selbst zu machen. Janarthanan Balakrishnan arbeitet in Indien im Department of Management Studies der Thiagarajar School of Management. Mark D. Griffith ist Psychologe und Direktor der International Gaming Research Unit an der Nottingham Trent University in Großbritannien.
Forschungsfragen
Zwei zentrale Fragen haben sich die Wissenschaftler gestellt:
- Welche Faktoren können zur Entwicklung einer Selfitis führen?
- Unterscheiden sich diese Faktoren über die drei verschiedenen Level der Selfitis, die im oben genannten Satire-Artikel vorgeschlagen wurden?
Warum Indien?
Indien gilt als das Land mit den meisten Facebook-Nutzenden und leider auch mit den weltweit meisten tödlichen Unfällen, verursacht durch Selfies. Daher wurde die Studie mit indischen Studierenden durchgeführt. Weitere Studien an weiteren Gruppen sind notwendig, um allgemeingültige Aussagen treffen zu können. Dies ist eine grundsätzliche Herausforderung an psychologische Forschung.
Zwei Phasen der Studie
- Die Studierenden wurden in Interviews mit offenen Fragen zu ihrer Motivation, Selfies zu machen, befragt. Die Aussagen wurden gesammelt, verglichen und zusammengefasst. Es ergaben sich 22 verschiedene Aussagen im Zusammenhang mit dem Selfie-Verhalten.
- Diese Aussagen wurden einer neuen Gruppe von 400 Studenten vorgelegt, die sich zuvor einem der drei Selfitis-Level zuordnen ließen. Die Teilnehmenden sollten ihr eigenes Verhalten auf einer 5-stufigen Skala einschätzen , ob sie der Aussage „5 = stark zustimmen“ bis hin zu „1 = stark ablehnen“.
Warum machen wir Selfies?
Die Datenanalyse ergab sechs verschiedene Faktoren im Zusammenhang mit der Selfitis, die sich über die drei Level hinweg, aber auch innerhalb der Gruppen, unterscheiden:
Ein Faktor, der sich nahezu kaum zwischen den drei Level-Gruppen unterscheidet, bezieht sich auf die „Verbesserung der Umwelt„. Aus dem Wunsch heraus, Erinnerungen zu schaffen, werden Selfies gemacht oder um durch das Teilen des Selfies dazuzugehören. Die Teilnehmenden der ersten Gruppe haben nach den Interviews auch Selfies zusammen gemacht. Vielleicht wollten sie eine Erinnerung schaffen oder sich einfach gut dabei fühlen, Teil der Studie gewesen zu sein.
Der „Soziale Wettbewerb“ spielt insbesondere bei denjenigen eine große Rolle, die bereits auf dem chronisches Selfitis-Level angekommen sind. Bereits bekannt ist, dass der soziale Wettbewerb beim exzessiven Computerspielen eine hohe Bedeutung hat. Spannend für zukünftige Forschung zur Selfitis und dem sozialen Wettbewerb ist die Persönlichkeitskomponente, die im sozialen Wettbewerb relevant ist.
Social Media Kanäle sind eine gute Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu bekommen. Somit spielt „Attention Seeking„, die Suche nach Aufmerksamkeit, eine wichtige Rolle bei der Nutzung von sozialen Medien. Attention Seeking ist eine wichtige Komponente von Narzissmus. Auch bei diesem Faktor finden sich die höchsten Werte in der Gruppe auf dem chronischen Selfitis-Level.
Ein Faktor, der auf der ersten Stufe borderline, denjenigen, die Selfies machen, sie aber nicht posten, eine Rolle spielt, ist die „Verbesserung der Stimmung„. Sich durch das Selfie besser zu fühlen, ohne dieses zu posten.
Ebenso hat der Faktor „Selbstbewusstsein“ die stärkste Bedeutung für die borderline Selfie-Taker. Es konnte bereits gezeigt werden, dass Selfies die Wahrnehmung und das Bewusstsein der Person steigern. Insbesondere die Möglichkeit der Bildbearbeitung und das Annähern an das Ideal-Selbst über ein „perfektes Selfie“ können das Selbstbewusstsein verbessern. Es kann allerdings sein, dass diese Steigerung des Selbstbewusstseins nur kurz anhält. Hierzu sind weitere Studien gefragt.
Der schwächste der sechs Faktoren ist die „subjektive Konformität„. Dabei geht es darum, dass wir uns selbst verschiedenen sozialen Gruppen zuordnen und dazu gehören möchten. Social Media erleichtert es, die passende Gruppe zu finden. Innerhalb der Gruppe entwickelt sich dann eine gewisse Konformität, es gelten inoffizielle Standards, wie die Selfies auszusehen haben. Die subjektive Konformität bezieht sich auf die subjektiv empfundene Verpflichtung diesen Standards zu entsprechen, um dazu zu gehören.
Bei einem Vergleich der Selfies von Sportlern, Fashion-, Buch- oder Reisebloggern (Youtuber, Instagrammer, etc.) auf einer beliebigen Platttform finden sich bei aller Individualität auch Gemeinsamkeiten innerhalb und Unterschiede zwischen den Gruppen.
Ernstes Problem?
Die sechs genannten Faktoren, die im Zusammenhang mit einer Selfitis zu stehen scheinen, gilt es in weiteren Studien noch genauer zu untersuchen. Die entwickelte Skala kann dabei ein hilfreiches Tool sein, um zukünftige Forschungsergebnisse gut miteinander zu vergleichen.
Es ist allerdings schon jetzt ein spannender Ansatz, auch wenn die Forschung zur Selfitis noch am Anfang steht. Die besprochene Studie hilft dabei, das Phänomen zu verstehen. Inwieweit eine Selfitis auf dem dritten chronischen Level als problematisch anzusehen ist, kann auf Basis dieser Daten nicht gesagt werden. Es deutet sich allerdings an, dass Personen auf diesem Level immer mehr Selfies machen, um eben noch mehr Aufmerksamkeit und positive Bestätigung zu erhalten. Auch die Wettbewerbskomponente kann zu einer Spirale führen, immer besser – gemessen an Likes – werden zu wollen. Die Vergleichsebene wird auch immer höher. Sind es anfangs noch die persönlichen Kontakte, warten auf der obersten Ebene die Stars aus verschiedenen Bereichen. Viele Erfolgsgeschichten von Online-Stars suggerieren, dass es jeder schaffen kann, daher gibt es auch keine Grenze der Vergleichsebenen.
Auf der individuellen Ebene gilt es zu betrachten, welche Motive tatsächlich dahinter stecken, ständig Selfies zu machen. Ist es reiner Spaß oder unkontrollierter Zwang? Wie wird mit den Reaktionen und auch ausbleibenden Reaktionen umgegangen? Gibt es auch andere Lebensbereiche, in denen die Person positives Feedback erhält?
Statements
Neben den genannten Faktoren haben Selfies noch eine Funktion, nämlich ein persönliches Statement zu setzen. Ein Beispiel ist aktuell auf Twitter unter dem Hashtag #HotPersoninAWheelchair zu beobachten.
Wie ist Eure Erfahrung?
Bekommt Ihr eher positives Feedback auf gepostete Selfies?
Wie erging es Euch beim Lesen der Faktoren, könnt ihr Euch damit identifizieren?
Oder seid Ihr fern ab von den Selfitis-Stufen und macht gar keine?
Wir freuen uns auf Eure Kommentare.
Quelle:
Balakrishnan, J. & Griffiths, M.D. (2017). An Exploratory Study of „Selfities“ and the Development of the Selities Behavior Scale. International Journal of Mental Health Addiction. [DOI: 10.1007/s11469-017-9844-x]