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Ein stark bearbeitetes Frauengesicht mit blauer Hautfarbe und blauen Haaren. Um ihren Kopf kreisen Social Media Symbole.

Mein perfektes Ich in der digitalen Scheinwelt

10 Oktober 2018

Wie lebt es sich digital in einer leistungsorientierten Gesellschaft, in der wenig Platz für Fehler ist? Soziale Netzwerke bieten eine Möglichkeit zur „perfekten“ Selbstdarstellung.

Frédéric Letzner ist Ernährungswissenschaftler, Personal Coach und Speaker zum Thema Ernährungspsychologie und Gesundheitsmanagement. Er erzählte uns im Webinar am 17. September 2018 etwas über Perfektion und die Selbstdarstellung in der digitalen Scheinwelt. Neben all den Vorteilen der sozialen Netzwerke, sich zu vernetzen, Kontakte zu pflegen und sich selbst mit den eigenen Themen zu präsentieren, gibt es auch Schattenseiten. Diese sind verbunden mit der Photoshop-Kultur, in der wir uns so zeigen können, wie wir gerne wären.

Frau mit rosa Haaren wirft ihre Haare über die Schulter. Neben ihr steht das Wort "Perfect" an der Wand.

Normal ist Langweilig

Fitness und Healthy Lifestyle sind große Themen in Sozialen Netzwerken. Doch wie gesund sind diese (Vor-)Bilder? Idealisierte Körper sind ständig (nicht nur in Sozialen Netzwerken) überall zu sehen, mit denen wir uns teilweise unbewusst vergleichen.

Die High-Performer-Kultur, mit möglichst wenig Aufwand ein perfektes Ergebnis erzielen, gilt als attraktiv. In einer Leistungsgesellschaft gilt Normalität als langweilig, es ist nicht genug. Daher ist die Grenze auf der Verhaltenskurve zwischen Extremen und psychologischen Störungen sehr eng. Das Eingeständnis eines Problems ist bei uns mit einem Eingeständnis von Schwäche verbunden und daher sehr schwierig.

Eine Kurve erklärt das Verhältnis von Norman zu Langweilig und Gestört.

In den Sozialen Medien bekommen meistens die Dinge besonders große Aufmerksamkeit, die extrem sind, die Sensationswert haben.

Wenn Extreme mehr Aufmerksamkeit, mehr Klicks, mehr Kommentare bekommen, kann das dazu führen, dass Extreme als „normal“ wahrgenommen werden.

Zugehörigkeit

Wir möchten einerseits etwas Besonderes sein, aber andererseits auch dazugehören. Wir haben ein starkes Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Akzeptanz. Wenn der Wunsch nach Zugehörigkeit wichtiger wird als die Vernunft, wie beispielsweise bei Mutproben, bewegen wir uns wieder im Bereich der Extreme.

Spielfiguren stehen auf dem Boden, links im Bild ganz viele, recht nur eine einzige.

Erwartungshaltung

Die Wahrnehmung vom scheinbar perfekten Leben der anderen führt mit großer Wahrscheinlichkeit dazu, dass sich hohe Erwartungen an das eigene Leben und die eigenen Leistungen entwickeln. Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht alle Menschen um uns herum wirklich perfekt sind, auch wenn wir sie so in den sozialen Medien wahrnehmen. Das geht inzwischen sogar so weit, dass beispielsweise Suizidgedanken bei Jugendlichen unter Fachleuten beinahe als „normal“ angesehen werden. Daher ist es wichtig, transparent zu machen, dass jeder einzelne mit diesen Gedanken nicht alleine ist.

Isolation ist eines der schlimmsten Dinge, die man Menschen antun kann.

Stress entsteht, wenn Erwartungen und Realität nicht zusammen passen. Ein Beispiel hierzu wäre das Thema Pünktlichkeit: Je größer die Differenz zwischen Erwartung (Pünktlichkeit) und Realität (zu spät kommen) ist, desto größer ist der Stress.

Ein Blitzt steht zwischen den Worten "Erwartungen" und "Realität".

Wir sind nicht perfekt!

Ich bin auch NUR ein Mensch!

Ein Satz, der häufig als Entschuldigung oder Ausrede gebraucht wird, wenn wir am Perfektionismus scheitern. Müssen wir uns schämen, ein Mensch zu sein? Ist menschlich sein ein Fehler? Wenn das Selbstwertgefühl abhängig von Aussehen und Leistungsfähigkeit ist, kann das sehr schnell zu Identitätskrisen führen.

Alle anderen haben auch kein perfektes Leben!

Das Bewusstsein für die Scheinwelt und das Bewusstsein, dass es anderen Menschen auch so geht wie uns, ermöglicht einen einfacheren Umgang mit den sozialen Netzwerken: Hinter jedem Account sitzt ein Mensch mit Fehlern und Schwächen. Über allem liegt der Filter der Perfektion.

Wenn du nichts leistest, bist du nichts wert.

Mit dieser Einstellung wird Ruhe schnell zum Stressfaktor. Aber genau diese Ruhe brauchen wir, um unsere eigenen Gedanken bewusst wahrnehmen und reflektieren zu können.

Das Bedürfnis Stress abzubauen

Ein Stressor, ein unangenehmes Gefühl, führt dazu, dass wir uns außerhalb unserer Komfortzone befinden. Wir haben Strategien und Verhaltensweisen entwickelt, um wieder zurück in unsere Komfortzone zu kommen. Beim unangenehmen Gefühl des Harndrangs beispielsweise ist das einfach. Wir gehen zur Toilette und uns geht es wieder gut. Anderen stressigen Situationen entkommen wir nicht so einfach. Daher entwickeln wir Verhaltensweisen, um uns emotional besser zu fühlen. Dies können Kratzen oder das Kneten von Fingern sein, aber auch Rauchen oder Stress-Essen. Der Blick auf das Smartphone hilft uns ebenfalls kurzfristig, einer unangenehmen oder stressigen Situation zu entkommen. Es hilft ebenfalls dabei, von sich selbst abzulenken.

Verschiedenfarbige Kreise zeigen die Entwicklung der Komfortzone.

Gehen wir von einer durchschnittlichen Komfortzone aus (grüner Kreis), verkleinert diese sich deutlich, sobald Perfektionismus angestrebt wird (roter Kreis). Es müssen mehr Faktoren stimmen, damit ein Perfektionist oder eine Perfektionistin sagen kann: „Alles ist ok“. Sich selbst zu akzeptieren, ist für einen Perfektionisten sehr schwierig. Gelassenheit dagegen vergrößert die Komfortzone (blauer Kreis). „Ich kann den Ist-Zustand akzeptieren, wie er ist.“

Was sind deine Gewohnheiten, die immer dann auftauchen, wenn du einen stressigen Tag hast? Gewohnheiten haben eine Funktion. In Momenten in denen es uns nicht gut geht, besteht die Gefahr in „alte Verhaltensmuster“ zurückzufallen.

Entwickeln wir extreme Gewohnheiten, können diese zur Sucht werden. Wichtig ist es, die Situationen zu kennen, die das Verhalten auslösen. Wird uns eine Strategie zur Stressbewältigung genommen, suchen wir uns eine andere, die nicht unbedingt gesünder für uns ist, wenn wir diese ebenfalls exzessiv ausüben.

Wenn es Menschen gut geht, wollen sich Menschen Gutes tun. Wenn es Menschen nicht gut geht, wollen sie es sich nicht gut gehen lassen.

Bei Jugendlichen zeigt sich Extremverhalten häufig in den Bereichen Mediennutzung und Essverhalten, weil das Möglichkeiten sind, in denen Jugendliche sich gut von sich selbst ablenken können. Stress wird meist dann spürbar, wenn wir zur Ruhe kommen. Dadurch kann Ruhe zu einem unangenehmen Zustand werden, den es dann zu vermeiden gilt.

Gelassenheit und Umgang mit Schwäche darf trainiert werden.

Spiel der Perfektion

Unser Bedürfnis nach Harmonie und Zugehörigkeit lässt uns das Spiel der Perfektion mitspielen. Angst vor Kritik auf der einen Seite und Belohnung durch Klicks und Likes auf der anderen beeinflussen unseren Umgang mit dem Smartphone und den Sozialen Netzwerken.

Das gibt uns schon fast ein Gefühl wie damals, als wir ein Kind waren und Papa gesagt hat: Das hast du gut gemacht.

Es liegt in unserer eigenen Verantwortung, das Smartphone auch mal liegen zu lassen. „Mach doch mal aus“, ist leicht gesagt, aber der Appell an die Vernunft reicht nicht aus. Es gibt Gründe, warum Menschen sich verhalten, wie sie sich verhalten. Nicht direkt bei WhatsApp zu antworten, führt zu Kritik. Wir erwarten Perfektion nicht nur von uns selbst, sondern auch von anderen.

Reflektiere, was du da den ganzen Tag tust! Es schlägt sich auf dein Selbstwertgefühl nieder, wenn du dich nur mit perfekten Dingen befasst. Entscheide, welche Prioritäten du setzt.

Eine Person sitzt an einem See und räkelt die Arme in der Luft.

Sei dir selbst wert

Nach Hilfe fragen, Hilfe annehmen und ‚Nein‘ sagen zu können, sind alles drei Dinge, wo ich erst einmal mir selber etwas Gutes tun (…) möchte. Und das kriegt man glaube ich am ehesten hin, indem man versteht, dass es allen Menschen auch nicht so optimal geht wie man immer denkt.

Hier findet ihr das Video zum Webinar. Der Text stellt nur einen kleinen Auszug dar.

Aus dem Wasser streckt sich ein Arm empor. In der Hand hält er eine funkensprühende Wunderkerze. Hilfe finden in einer Suchtberatungsstelle Vier Menschen stehen an einer Wand und gucken alle in ihr Smartphone. Einfach komplizierte Kommunikation via WhatsApp & Co
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