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Schillernde Farben schweben über einer Gruppe von Menschen

Foto: Cosmin Serban/Unsplash

Internet Reliance: Sind wir ohne Netz hilflos?

14 Mai 2020

Lesezeit 7 Minuten

Im Herbst 2019 veranstaltete die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen ihre Fachkonferenz Sucht. Unsere Projektkoordinatorin Saskia war vor Ort und ist dort auf einen interessanten Begriff gestoßen: Internet Reliance. Dieser Ausdruck kam im Vortrag über Smartphone Habits vom Medienwissenschaftler Prof. Dr. Christoph Klimmt vor. Wir wollten wissen, was genau Internet Reliance ist und ob es einen Zusammenhang mit Internetsucht gibt. Dazu haben wir Prof. Dr. Klimmt interviewt.

Übrigens: Zu Smartphone Habits gibt es auf unserem Blog auch schon einen Artikel, den Du hier nachlesen kannst.

Herr Prof. Dr. Klimmt, was ist Internet Reliance?

Mit Internet Reliance ist eine zur Gewohnheit erwachsene Neigung gemeint, sich auf die Verfügbarkeit von Online-Medien und -Diensten zu verlassen. Unabhängig davon, wo ich mich gerade befinde, gehe ich davon aus, dass ich die Ressourcen in Anspruch nehmen kann, die mir das Internet – insbesondere über das Smartphone – bietet. Beispielsweise um Kontakt zu wichtigen Menschen herzustellen oder unvorhergesehene Probleme zu lösen.

Wie äußert sich Internet Reliance im Alltag? Können Sie uns ein paar Beispiele nennen?

Wer sich stark auf das Internet verlässt, plant im Alltag weniger voraus und pflegt mehr Spontanität. Für eine anstehende Warteperiode, zum Beispiel beim Arzt, nimmt man keinen Lesestoff mit, denn über das Smartphone wird es ja genug Ablenkung und Beschäftigung geben. Verabredungen mit Freunden werden nicht mehr ganz fest und verbindlich getroffen, weil man sich darauf verlässt, kurzfristig Orte und Zeiten noch abstimmen und mit den Freunden digital nachjustieren zu können. Vor einem Besuch einer fremden Stadt verschafft man sich keine Orientierung im Stadtplan, weil man ja vor Ort mit dem Handy navigieren kann.

Neon-Leuchtschrift titelt "You are here", "Du bist hier"

Foto: John Baker/Unsplash

Wie stark ist das Bedürfnis nach permanentem Internetzugang im Vergleich zu anderen menschlichen Bedürfnissen?

Ein Bedürfnis im existenziell-psychologischen Sinne – wie etwa Nahrung oder Sicherheit – ist das Verlangen nach permanenter Online-Verbindung sicher nicht. Vielmehr geht die Forschung davon aus, dass die gewohnheitsmäßige Nutzung des Internets und die vielen kleinen positiven Alltagserfahrungen, die online gesammelt werden, eine starke Erwartungshaltung prägen. Nämlich die Geisteshaltung (auch Mindset genannt), dass man auf permanenten Online-Zugang dringend angewiesen sei.

Steht die Netzverbindung dann einmal nicht zur Verfügung – gerade in ungewohnten oder stresserzeugenden Situationen, kann diese Erwartungshaltung stark negative Gefühle auslösen, etwa Angst oder Verzweiflung. Aber das passiert natürlich nicht allen Nutzer*innen; und schon gar nicht mit großer Häufigkeit.

Das heißt, offline zu sein, bedeutet für manche Menschen Stress?

Erzwungene Offline-Umstände fühlen sich für Menschen mit starker Internet Reliance hochgradig unangenehm an. Sie verspüren eine starke Sorge, wichtige Ereignisse aus ihrem sozialen Umfeld zu verpassen (Fear of Missing Out oder kurz FOMO).

Sie erleben sich als weniger handlungsfähig, fürchten die Überforderung durch ungewohnte Situationen und neuartige Probleme. Und sie vermissen die vielen kleinen positiven Erfahrungen, die sie im Alltag in Episoden digitaler Mikro-Kommunikation so häufig sammeln, etwa das Herzchen-Smiley zwischendurch von der Partnerin oder das lustige Katzenbild vom Bruder.

Empfangssymbole für Mobilfunk und WLAN

Foto: Praveen Kumar Mathivanan/Unsplash

Was sollten wir daraus für Erkenntnisse und Konsequenzen ziehen?

Zunächst einmal nutzt die Wissenschaft Begriffe wie Internet Reliance und Online-Vigilanz (eine ständige Aufmerksamkeit für die persönliche Online-Welt), um zu beschreiben, wie das Smartphone als persönlicher digitaler Begleiter unsere Geisteshaltung und unser Verhalten im Alltag beeinflusst.

Wenn das Ziel ist, Menschen in ihrer Handlungsfähigkeit und ihre Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben zu stärken, kann eine Schlussfolgerung sein, dass wir Menschen mit besonders starken Online-Gewohnheiten in ihrer selbstkritischen Reflexion unterstützen sollten.

Mehr Einsicht in die eigenen Gewohnheiten ist immer hilfreich; das gilt auch für den Smartphone-Konsum. Manche Menschen berichten positive Effekte von Handyfasten.

Viele Jugendliche hinterfragen die Online-Dienste, die sie so selbstverständlich und virtuos nutzen, kaum hinsichtlich der zugrundeliegenden Geschäftsmodelle, Eigentumsverhältnisse oder auch Technologien.

Meine Kollegin Dr. Dorothée Hefner rät zum achtsamen Online-Gebrauch – weniger unreflektierte Intensivnutzung, sondern mehr Bemühen, sich seine Bedürfnisse, Erwartungen und Nutzungsmuster bewusst zu machen. So entstehen neue Chancen, das Smartphone für die eigenen Ziele einzusetzen, aber weniger darauf angewiesen zu sein und selbstbestimmter damit umzugehen.

Wie verhält sich Internet Reliance zu Internetsucht? Gibt es einen Zusammenhang?

In der Forschung wird zwischen einer starken Gewohnheit (oder Geisteshaltung) einerseits und einem suchtartigen Verhalten andererseits unterschieden.

Von Internetsucht sprechen wir, wenn eine Person die Kontrolle über ihren Online-Gebrauch (zum Beispiel Online-Spiele, soziale Medien oder Online-Pornografie) verloren hat und an der Nutzung festhält, obwohl sie negative Folgen im Leben erfährt, wie etwa Stress in der Partnerschaft oder Absturz von Schulleistungen. Solche Probleme treten bei einem sehr kleinen Anteil der Nutzerschaft auf, fast immer im Zusammenwirken mit anderen psychischen Belastungen wie etwa Depressionen. Sie bedürfen unbedingt professioneller Behandlung.

Internet Reliance dagegen ist eine Gewohnheit, die durch häufigen, vor allem wenig reflektierten und wenig bewusst gesteuerten Mediengebrauch entsteht. Sie kann daher alle Nutzer*innen betreffen, und vielfach ist sie auch funktional, weil wir damit im Alltag handlungsfähiger werden. Sie kann aber auch problematische Folgen haben, etwa Hilflosigkeit in einfachen Situationen, die man ohne Smartphone nicht mehr bewältigen kann.

Ob aus einer starken Online-Gewohnheit eine Sucht werden kann, ist eine schwierige Frage; vermutlich müssen dafür bestimmte Personenmerkmale – wie eben eine psychische Belastung – vorliegen. Denn in die Sucht geraten Menschen, deren Selbststeuerungsfähigkeit stark eingeschränkt ist. Eine Gewohnheit zu ändern, ist für Menschen sehr anstrengend, aber grundsätzlich möglich. Sich alleine aus einer Sucht zu befreien, ist dagegen nahezu unmöglich.

Neun-Leuchtschrift appelliert: "Du something great!", "Mache etwas großartiges!"

Foto: Clark Tibbs/Unsplash

Wie viel Internet Reliance ist unbedenklich? Und ab wann sollte ich mir Gedanken machen?

Wenn nahestehende Menschen darüber klagen, dass man so viel Zeit mit dem Handy oder dem Internet verbringe, ist das ein wichtiges Zeichen, sich zu hinterfragen. Oft ist dann weniger der Smartphone-Gebrauch selbst das Problem; vielmehr ist die intensive Zuwendung zum Internet häufig ein Zeichen, dass sonst etwas im Leben verändert werden müsste, etwa in engen Beziehungen.

Solange man einen aktiven Austausch mit nahestehenden Menschen pflegt, in Bildung oder Beruf gut dabei ist und sich körperlich wohlfühlt (Schlafmangel oder Verspannungen entstehen häufig aus unreflektiertem Online-Gebrauch), muss man sich auch über intensive Internet Reliance keine Sorgen machen. Dann ist man eben ein*e Heavy User*in, aber das ist per se ja nichts Schlechtes.

An wen können sich Interessierte wenden, wenn Sie mehr über Internet Reliance erfahren möchten?

Der Begriff ist nur einer von mehreren, die in der medienpsychologischen Forschung verwendet werden. Fachliteratur findet sich auch unter den Schlagwörtern permanently online und always online / always on sowie Online-Vigilanz.

Medienberatungsstellen sind in aller Regel auf Online-Sucht ausgerichtet, hier gibt es deswegen aber natürlich auch viel Expertise in Bezug auf die Frage, was noch unauffällig und was schon eine Sucht sein könnte.

Beratung bieten in dieser Hinsicht zum einen psychologische und psychiatrische Einrichtungen, etwa das Center for Behavioral Addiction Research (CEBAR) der Universität Duisburg-Essen, aber auch lokale Initiativen zur Medienkompetenzförderung und zur Suchtprävention. Hier sind vor allem jugendorientierte Angebote verbreitet, beispielsweise bei den Landesarbeitsgemeinschaften Jugendschutz.

Herr Klimmt, vielen Dank für das Interview.

Weitere Beratungs- und Hilfeangebote bei exzessivem Medienkonsum oder Mediensucht, finden Betroffene und Angehörige in unserer interaktiven Karte.

Person sitz alleine an einer Mauer und vergräbt das Gesicht in den Armen. Um sie herum Blitze und Wirbel wie aus einem Comic. Cyber-Mobbing: Was kannst Du dagegen tun? Testbild eines Fernsehers Mediensucht: Die Suche nach Liebe, Glück und Anerkennung
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