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Bildschirm mit Coronastatistik

Foto: Fahim R / Unsplash.com

Mediensucht unter Corona, Lockdown und Social Distancing – Interview mit Real Life

29 April 2021

Lesezeit 6 Minuten

Seit über einem Jahr leben wir mit einer Pandemie, Hygienemaßnahmen, Kontaktbeschränkungen und immer wieder Lockdowns. Digitale Medien – ob zur Unterhaltung oder Kommunikation – sind da für viele von uns ein echter Segen. Aber was ist mit denen, die die Kontrolle über ihren Medienkonsum verlieren? Was ist mit denen, die mediensüchtig werden oder es vor Ausbruch von Corona schon waren? Wir haben darüber mit Christian Tuhacek gesprochen. Er ist Sozialpädagoge und arbeitet für das Diakonische Werk Region Kassel im Zentrum für Sucht- und Sozialtherapie. Dort ist er für den Arbeitsbereich Real Life zuständig.

Mediennutzung, Corona und Lockdown

Saskia Rößner: Hat sich unsere Mediennutzung durch die Pandemie verändert?

Christian Tuhacek: Die ersten Untersuchungen zeigen, dass unsere Nutzung von Online-Medien in allen Bereichen gestiegen ist, vor allem bei Streaming und Gaming. Aber auch die Nutzungszeiten von Fernsehen und Büchern sind gestiegen. Das ist aber auch nachvollziehbar und normal, wenn andere Freizeitaktivitäten weitestgehend eingeschränkt werden müssen.

Christian Tuhacek

Foto: Christian Tuhacek / Diakonisches Werk Region Kassel

Saskia Rößner: Melden sich jetzt mehr Menschen mit problematischer Mediennutzung in Ihrer Einrichtung?

Christian Tuhacek: Die Zahl der Gesprächstermine ist gestiegen, auch wenn die Zahl der Erstkontakte leicht zurückgegangen ist. Auffällig ist, dass sich jetzt deutlich mehr Betroffene bei uns melden. Zuvor waren es eher die Angehörigen, die sich bei uns beraten lassen wollten. Das werte ich als positives Zeichen. Sucht wird in unserer Gesellschaft häufig als Tabuthema behandelt. Für Betroffene stellt es daher mitunter eine große Hürde dar, sich zu offenbaren und sich Hilfe zu suchen.

In der Pandemiezeit scheint die Akzeptanz für die von exzessiver Mediennutzung Betroffenen größer geworden zu sein.

Außerdem fällt der Großteil alternativer Freizeitbeschäftigungen weg, selbst wenn Betroffene gerne auch mal etwas zum Ausgleich machen möchten. Unter den aktuellen Bedingungen brechen womöglich bei manchen die letzten sozialen Kontakte im analogen Leben weg. Das verschärft nicht nur den Leidensdruck der Betroffenen, sondern vielleicht auch ihr Problembewusstsein.

Mediensucht unter Corona: Problemlage hat sich immens verschärft

Saskia Rößner: Hat sich an der Problemlage der Betroffenen durch die Pandemie etwas verändert?

Christian Tuhacek: Weniger verändert, aber deutlich verschärft. Soziale Kontakte, Isolation und alternative Beschäftigungen sind bei unseren Beratungen ein riesiges Thema. Bei vielen Betroffenen spielen außerdem soziale Ängste noch eine Rolle.

Viele Menschen, die schon ein gutes Stück daran gearbeitet haben, ihre Mediennutzung wieder unter Kontrolle zu kriegen, wurden durch die Corona-Maßnahmen zurückgeworfen. Alternative Beschäftigungsmöglichkeiten und Alltagsstrukturen sind weggebrochen. Plötzlich stehen manche Betroffenen scheinbar wieder am Anfang ihrer Behandlung.

Ein Großteil der von Mediensucht Betroffenen hat durch die Pandemie und deren Auswirkungen einen Rückfall erlitten.

Natürlich spielen da bei manchen auch noch andere Faktoren mit rein. Aber Corona ist ein großer Faktor, der von den Betroffenen bei der Aufarbeitung auch selbst immer wieder genannt wird.

Saskia Rößner: Wie gehen Sie als hilfeleistende Einrichtung damit um, wenn auf einmal so viele Klient*innen gleichzeitig rückfällig werden?

Christian Tuhacek: Das ist definitiv eine anspruchsvolle Situation. Wir sind häufig in Krisenbearbeitung. Dass wir uns aktuell in einer Krise befinden, ist ja schon das Gefühl der breiten Bevölkerung. Für die Betroffenen von exzessiver Mediennutzung ergibt sich aktuell aber eine besonders belastende Situation: Einerseits Corona, andererseits die Abhängigkeitserkrankung, die sie bewältigen wollen.

Game Over

Foto: Saskia Rößner / webcare+

Trotz Corona: Dank digitaler Medien in Kontakt bleiben

Saskia Rößner: Digitale Medien haben uns in der Pandemie aber auch viele Vorteile gebracht.

Christian Tuhacek: Ja, auf jeden Fall. Ob es nun Videokonferenzen oder Messenger sind: Digitale Medien helfen uns in der aktuellen Zeit, miteinander in Kontakt zu bleiben. Auch für von Sucht betroffene Menschen haben die digitalen Möglichkeiten dabei geholfen, mit Freund*innen, Familie, Berater*innen und Therapeut*innen in Kontakt zu bleiben.

Sogar viele Betroffenen von Mediensucht haben Vorteile digitaler Medien erfahren. Man ist ja nicht süchtig nach allen digitalen Medien, sondern nur nach Teilbereichen, einzelnen Apps oder Games. Es geht bei der Bekämpfung dieser Sucht also nicht um eine Abstinenz vom gesamten Internet, sondern um die Abstinenz der riskanten Anwendungen. Wenn man nicht gerade nach sozialen Medien süchtig ist, kann die Nutzung von Messengern und Videotelefonie genauso förderlich für das psychische Wohlbefinden sein wie bei Menschen ohne problematische Mediennutzung.

Saskia Rößner: Haben Sie selbst digitale Beratungsangebote etabliert?

Christian Tuhacek: Wir bieten Einzel- und Gruppengespräche über Videokonferenzen an. Und gerade Menschen mit problematischer Mediennutzung sind digital fit und offen dafür. Das Medium Videochat ist ihnen oft schon gut bekannt und sie fühlen sich wohl damit. Gleichzeitig hilft manchen Betroffenen die räumliche Distanz, um sich zu öffnen, besonders im Gruppenkontext. Im Vergleich dazu: Betroffene von Alkohol- oder Glücksspielabhängigkeit mussten sich an manchen Stellen erst für Videogespräche sensibilisieren. Aber auch von Ihnen wird unser Angebot dankend angenommen.

Grafische Formen

Foto: Sebastian Kanczok / Unsplash.com

In dem Sinne hat Corona die Beratungslandschaft digital ein gutes Stück vorangebracht. Es gibt neue Optionen, um auf die Bedürfnisse der Klient*innen einzugehen: Analog, digital oder gemischt (Blended Counseling). Selbst die älteren Kolleg*innen sehen die neuen digitalen Möglichkeiten inzwischen mit Begeisterung. Das sehe ich als großen Pluspunkt, den wir aus dieser Krisensituation heraus entwickelt haben.

Wir brauchen mehr Online-Angebote und eine aufmerksamere Gesundheitspolitik!

Saskia Rößner: In unserem Projekt hatten wir auch mal virtuelle Selbsthilfegruppen. Glauben Sie, dass solche Gruppenangebote in Zeiten von Corona wieder an Wichtigkeit gewinnen?

Christian Tuhacek: Ja, der Bedarf nach Austausch und Rückhalt ist ja trotzdem da. Gerade jetzt, wo die klassischen Gruppentreffen nicht stattfinden dürfen, wäre das der ideale Zeitpunkt, so ein Online-Angebot ins Leben zu rufen oder zu reaktivieren. Selbst wenn die Betroffenen sich lieber persönlich treffen, wäre das für sie eine große Hilfe.

Saskia Rößner: Gibt es noch etwas anderes, was Sie als Suchthilfeeinrichtung in der Pandemiezeit für wichtig erachten?

Christian Tuhacek: Gesundheits- und Sozialpolitik sollten die Menschen mit psychischen und Suchterkrankungen besser im Auge haben. Die aktuelle Lage verschärft ihre Situation massiv. Was hier langfristig an Schäden entsteht, haben viele gar nicht auf dem Schirm.

Saskia Rößner: Herr Tuhacek, vielen Dank für das Interview.

Hilfe in Deiner Nähe

Wenn auch Du das Gefühl hast, Deine Mediennutzung oder die Deiner Angehörigen könnte außer Kontrolle geraten sein, findest Du in unserer interaktiven Karte kompetente Ansprechpartner*innen in Deiner Nähe.

Tablet mit Lockdown-Schriftzug Mediensüchtig durch Corona? (Webinarbericht) Blick aufs Handy, im hintergrund läuft der Fernseher Always On und Second Screen: Es fällt uns schwer, abzuschalten
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