Stell dir vor, Du besuchst übers Wochenende eine gute Freundin. Du steigst voller Vorfreude in den Zug und möchtest die Fahrt ganz entspannt genießen und aus dem Fenster schauen. Sobald Du deinen Sitzplatz eingenommen hast, willst du Deiner Freundin schreiben, dass Du jetzt im Zug sitzt. Dein Blick fällt auf den Akkustand, die nur noch etwa ein Viertel voll ist. Kein Problem, denkst Du Dir: Hier im Zug gibt es ja Steckdosen. Du öffnest also Deinen Rucksack und willst das Ladekabel herausholen. Nach 10 Minuten und nachdem Du drei Mal jede einzelne Tasche durchsucht hast, musst Du der Wahrheit ins Gesicht blicken: Du hast Dein Ladekabel vergessen. Wie reagierst Du? Alles cool oder blanke Panik?
Hoher Stress, wenn Akku-Ladekabel vergessen
Die meisten Leute in Deutschland reagieren auf das vergessene Ladekabel recht entspannt. Dennoch: Bei rund jeder dritten befragten Person steigt der Stresspegel hoch bis sehr hoch, wenn das Ladekabel auf Reisen aus Versehen zuhause geblieben ist. So zumindest eine repräsentative Online-Umfrage von YouGov aus dem Jahr 2020. Doch was sagt die Wissenschaft dazu? Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir mit schwachem Handy-Akku unterwegs sind?
Akkustand verändert Raum und Zeit
Nein, wir wollen hier jetzt nicht mit der Relativitätstheorie anfangen. Aber: Dass Zeit gefühlt mal schneller und mal langsamer vergeht, haben wir vermutlich alle schon einmal erlebt. Fünf Minuten in der Schlange an der Supermarktkasse kommen uns schnell vor wie eine halbe Ewigkeit. Hingegen vergehen 5 Minuten mit unserem Lieblingsspiel wie im Flug.
Scheinbar verhält es sich mit unserem Handyakku ähnlich. Ist der Landestand (nahezu) voll, ist alles in Ordnung. Doch ist vom Akkustand nur noch die Hälfte oder weniger übrig, dann scheint die Zeit (oder die räumliche Entfernung) bis zur nächsten Lademöglichkeit endlos lang zu sein. Zumindest lautet so das Fazit einer britischen Studie unter der Leitung von Dr. Thomas Robinson.
Hier ein Zitat aus den Interviews (übersetzt ins Deutsche von webcare+):
„Ich bemerkte, dass meine Batterie leer war und dachte, ok das ist in Ordnung Es wird alles wieder gut. Und dann waren es ungefähr 25 % und ich ging in den nächsten Apple Store, um meinen Akku zu laden. Ich habe eines ihrer Ausstellungs-iPhones ausgesteckt und meines eingesteckt. Ich blieb dort für ungefähr 15 Minuten und schaute mir die Ausstellungstelefone an bis mein Handy wieder ausreichend geladen war.“
Wohlbefinden nur mit vollem Akku
Dr. Thomas Robinson erzählt, dass sich die Befragten bei vollem Akkuladestand gut fühlten und als ob sie überall hingehen oder alles tun könnten. Alles, was weniger als halb voll war, löste bei vielen jedoch Gefühle von Angst und Unbehagen aus. Hier zwei Beispiele:
„Ich bin mir dem Akkustand viel bewusster, wenn ich unterwegs bin. Zuhause sind überall Steckdosen. Unterwegs muss der Akkustand eine bestimmte Prozentzahl haben oder es herrscht Chaos in meinem Kopf.“
„Wenn du an einem kalten Tag in der Badewanne bist und jemand den Stöpsel gezogen hat: So fühlt es sich an, wenn der Akkustand sinkt. Du denkst: ‚Dreh den Hahn auf, mach den Hahn auf!‘ Denn du bist nackt und dir ist kalt.“
Niedriger Akkustand kann zu sozialen Konflikten führen
Smartphones sind heute weit mehr als nur ein Kommunikationsmittel. Sie sind Landkarten, Notizbücher, digitale Geldbörsen, Unterhaltungssysteme, Taschenrechner und vieles mehr. Dass Batterie-Symbole da bei einigen Menschen eine wichtige Rolle spielen, ist nicht ganz abwegig. Welch immensen Wert manche Leute dem jedoch zumessen, kann (oder sollte) kritisch hinterfragt werden.
So berichteten manche Studienteilnehmende von Streitigkeiten mit ihren Lebenspartner*innen, wer über Nacht das Handy an der einzigen Steckdose am Nachttisch laden dürfe. Auch Auseinandersetzungen innerhalb Freundesgruppen über Ausflugsziele wurden zum Thema. In welchem Einkaufszentrum gibt es eine Handy-Ladestation?
Wem das schon absurd erscheint, wird beim nächsten Beispiel vermutlich mit dem Kopf schütteln: Scheinbar gibt es Menschen die wenig von Mitmenschen halten, deren Handy-Akku hin und wieder leerläuft. Sie wurden in den Interviews als „frustrierend“, „unorganisiert“ und „rücksichtslos“ bezeichnet. Studienleiter Dr. Robinson erzählt:
„Wir haben festgestellt, dass Menschen, die ihr Handy-Akku leerlaufen lassen, von anderen als nicht mit der sozialen Norm verbunden angesehen werden und daher als nicht in der Lage, kompetente Mitglieder der Gesellschaft zu sein. […] Telefone sind für alles, was wir sind, zu einem solchen Knotenpunkt geworden, dass die Unfähigkeit, die Akkulaufzeit effektiv zu verwalten, zum Symbol geworden ist für die Unfähigkeit, das eigene Leben zu verwalten.“
Sozialer Druck zu vollem Akkustand?
Die Erwartungshaltung der Befragten wird auch wieder auf sie zurückgeworfen, zumindest dem eigenen Empfinden nach. Sie befürchten, dass andere Menschen schlecht über sie denken könnten, wenn sie nicht rund um die Uhr für einen gut geladenen Akku sorgen. Hier zwei weitere Zitate als Beispiele:
„Wenn ich jemanden treffen will und der Akkustand ist gering, dann mache ich mir Sorgen. Vielleicht finde ich die Person nicht oder sie findet mich nicht. Sie denkt vielleicht, ich hätte sie sitzen lassen. Ich werde dann sehr vorsichtig, schalte das Handy manchmal für eine halbe Stunde aus, um Akku zu sparen.“
„Ich bekomme Panik, wenn ich die Meldung erhalte: ‚Der Akku ist schwach, möchten Sie den Akku schonen?‘ […] Ich schalte dann sofort den Energiesparmodus ein und stecke das Ladekabel ein. Entweder über den Adapter im Auto oder über die Powerbank in meiner Handtasche. Ich habe Angst, dass mein Partner mich nicht erreichen kann. Er würde meine Mutter anrufen und meine Schwester anrufen und nach mir fragen.“
Fazit: Akku hat mehr Einfluss als uns lieb ist
Hast Du beim Lesen auch das eine oder andere Mal die Augenbrauen verzogen? Die Erzählungen der Studienteilnehmer*innen sind teilweise erschreckend. Sind wir wirklich so abhängig von unserem Handy? Hat der Akkustand unseres Smartphones tatsächlich eine solch enorme Wirkung auf unsere Stimmung und unser Wohlbefinden?
Wie ist das bei Dir? Wie empfindest Du das? Erwartest Du von Deinen Mitmenschen, dass ihre Handy-Akkus immer ausreichend geladen sind? Erwartest Du, dass sie immer erreichbar sind? Bist Du selbst immer erreichbar? Fühlst Du Dich unter Druck gesetzt, immer erreichbar zu sein und immer zeitnah auf Anrufe und Nachrichten zu reagieren?
Vielleicht kannst Du in Zukunft mal ganz genau darauf achten, was dein Akkustand mit Dir (und Deinen Mitmenschen) macht.
- Blogbeitrag „FOMO – Fear of Missing Out: Hast Du Angst, etwas zu verpassen?“
- Interview „Internet Reliance: Sind wir ohne Netz hilflos?“
- Blogbeitrag „Nomophobie: Hast Du Angst, ohne Handy aus dem Haus zu gehen?“
- Blogbeitrag „Handysucht: Gibt es das überhaupt?“
Quellen
- Thomas Derek Robinson & Eric Arnould (2020): Portable technology and multi-domain energy practices, in: Marketing Theory, Jahrgang 20, Heft 1, Seite 3–22, doi:10.1177/1470593119870226.
- Infografik zur YouGov-Umfrage auf Statista