Blog

Frau mit Buchstaben udn Zahlen im Gesicht

Foto: Thisisengineering Raeng / Unsplash.com

Psychoinformatik: Mit Deinem digitalen Fußabdruck gegen Internetsucht

09 Dezember 2021

Lesezeit 8 Minuten

Psychoinformatik, Digital Phenotyping, Mobile Sensing – klingt kompliziert, könnte aber hilfreich sein. Prof. Dr. Christian Montag war bei webcare+ schon mehrfach zu Gast, zum Beispiel in diesem Webinar oder in diesem Blogbeitrag.

In einem neuen Artikel beleuchtet er gemeinsam mit Hans Jürgen-Rumpf die Vor- und Nachteile technischer „Hilfsmittel“ bei der Prävention, Behandlung und Nachsorge von internetbezogenen Störungen. Mit Technik gegen Onlinesucht – das klingt für Dich wie ein Widerspruch? Das muss es nicht sein. Beispielsweise ist Onlineberatung durchaus für Menschen mit Onlinesucht geeignet, wie wir in diesem Blogbeitrag zeigen.

Montag und Rumpf zeigen in ihrem Artikel, wie man unseren digitalen Fußabdruck nutzen könnte, um Mediensucht frühzeitig zu erkennen, die Behandlung zu unterstützen und Rückfällen vorzubeugen. Falls du schon einmal von E-Health (oder eHealth) gehört hast, kommt dir das vielleicht bekannt vor. Das Bundesgesundheitsministerium definiert E-Health so:

„Unter E-Health werden Anwendungen zusammengefasst, die zur Unterstützung der Behandlung und Betreuung von Patient*innen die Möglichkeiten nutzen, die moderne Informations- und Kommunikationstechnologien bieten.“

Wichtig ist, dass die Idee von Montag und Rumpf sich auf die Einbettung in ein klassisches Therapie-Setting bezieht. Es geht ihnen nicht darum, dass wir alle ungefragt und flächendeckend getrackt (überwacht) werden sollen, damit bei der kleinsten auffälligen Nutzungsgewohnheit sofort irgendwo ein Alarm losgeht und prompt ein*e Psychotherapeut*in vor unserer Wohnungstür steht. Das wäre aus Sicht der Prävention zwar vielleicht ganz effektiv, aber Datenschutz und Privatsphäre haben da auch noch ein Wörtchen mitzureden.

Mann mit Headset

Foto: Fausto Sandoval / Unsplash.com

Mit dem digitalen Fußabdruck der Internetsucht auf die Spur kommen

Dass es möglich sein könnte, psychische Erkrankungen durch das Nutzungsverhalten von Apps zu erkennen, hat eine Studie aus den USA gezeigt. Hier analysierten Forscher*innen Instagram-Fotos und fanden einen Zusammenhang zwischen der Art der Fotos und der Diagnose Depression. So posteten depressive Nutzer*innen beispielsweise mehr bläuliche, gräuliche und dunklere Fotos.

Die großen Plattformen wie Facebook und YouTube könnten also durchaus erkennen, wenn es uns gerade nicht so gut geht. Vermutlich könnten sie sogar abhängiges Verhalten erkennen, bevor wir selbst oder unsere Angehörigen es tun. Aber die Tech-Giganten geben ihre Informationen nur ungerne preis, nicht einmal für die Wissenschaft. Außerdem: Gerade im Fall einer Abhängigkeit (oder auch nur einer exzessiven Nutzung) profitieren die Plattformen davon, wenn wir sehr viel Zeit auf ihnen verbringen.

Aber zurück zur rein wissenschaftlichen Nutzung unserer digitalen Fußabdrücke: Seit einigen Jahren gibt es eine wissenschaftliche Disziplin, die sich Psychoinformatik nennt:

„Mit Online-Tracking und der Analyse von Mensch-Smartphone-Interaktion beobachten Wissenschaftler*innen den Aufstieg einer neuen Disziplin namens Psychoinformatik, in der Methoden aus der Informatik den psychologischen/psychiatrischen Wissenschaften helfen können, die vielfältigen Probleme zu bewältigen, die mit Selbsteinschätzungen oder kontrollierten Experimenten einhergehen.“ (übersetzt aus dem Englischen von webcare+)

Digital Phenotyping und Mobile Sensing

Eine Methode der Psychoinformatik ist das „Digital Phenotyping“ (englisch). Die deutsche Übersetzung klingt ähnlich sperrig: Digitale Phänotypisierung. Gemeint ist damit, dass unsere technischen Geräte genutzt werden, um beispielsweise ein möglichst exaktes Bild unserer Mediennutzung zu erstellen. Vor allem bei stark vernetzten Geräten (Smart Home oder Internet of Things) ist dies möglich. Werden hierfür nur mobile Endgeräte (Smartphone, Tablet, Smartwatch, Fitnessuhr) genutzt, spricht man von „Mobile Sensing“ (= „mobile Sensorik“).

Montag und Rumpf weisen beispielsweise darauf hin, dass so aus der Onboard-Diagnose im Auto das Geschlecht einer Person, aus Facebook-Likes verschiedene Persönlichkeitsmerkmale oder aus dem getrackten Duschverhalten die schulische Leistung vorhergesagt werden könnten. Klingt das für Dich fantastisch oder gruselig?

Figur aus Nullen und Einsen

Grafik: Geralt / Pixabay.com

Psychoinformatik hat viele Vorteile gegenüber klassischen Forschungsmethoden

Ein großer Schwachpunkt vieler älterer Studien zu unserer Onlinezeit war, dass die Onlinezeiten nur auf Laptops oder Tablets gemessen wurden. Lange Zeit blieben Handys/Smartphones außen vor. Heutzutage gehen wir aber immer öfter auch mobil online. Die jüngeren Generationen sogar vorwiegend. So oder so: Je mehr Geräte in die Messungen einbezogen werden, desto genauer ist das Ergebnis und desto eher kann sie beispielsweise eine*n Psychotherapeut*in dabei unterstützen, die richtige Diagnose zu treffen und die richtige Behandlung zu empfehlen.

Zudem könne Digital Phenotyping noch ein paar weitere Nachteile klassischer Forschungsmethoden wie Umfragen oder Experimente ausgleichen, so Montag und Rumpf: Schlechte Selbsteinschätzung, Erinnerungslücken, sozial erwünschtes statt faktenbasiertes Antworten, hohe Kosten, beschränkte Teilnahmezahlen oder die Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf den Alltag. Digital Phenotyping schneide bei all diesen Punkten wahrscheinlich besser ab. Montag und Rumpf bezeichnen die Psychoinformatik daher als willkommene Ergänzung im Werkzeugkasten der psychologischen Forschung. Zudem seien Längsschnittstudien, das heißt Studien über einen langen Zeitraum, leichter möglich als bei anderen Forschungsdesigns.

Auch Psychoinformatik nicht ohne Risiken

Ganz problemlos gestaltet sich aber auch diese neue Wissenschaftsdisziplin nicht. Zum einen ist da wie oben schon erwähnt die Frage der Privatsphäre. Selbst wenn Digital Phenotyping im wissenschaftlichen Rahmen eingesetzt wird, muss sichergestellt werden, dass wirklich auch nur das getrackt wird, was für die Studie / Behandlung von Relevanz ist. Also beispielsweise bei Menschen mit Computerspielsucht nur das Gaming an PC, Konsole oder Handy. Welche Kontakte sie in sozialen Netzwerken haben oder welche Sachen sie online bestellen, geht die Wissenschaftler*innen dann erstmal nichts an. Außer die Abhängigkeit wird auch dort ausgelebt, zum Beispiel durch intensives Chatten über Games und teures Shopping von Gaming-Zubehör.

Eine zweite Herausforderung der Psychoinformatik ist die riesige Menge an Daten. Für ein Forschungsteam oder eine*n einzelne*n Psychotherapeut*in ist die manuelle Auswertung kaum zu schaffen – zumindest nicht zeitnah. Daher wäre es hilfreich, künstliche Intelligenz (KI) zu nutzen, um die Datensätze auf auffälliges Nutzungsverhalten zu analysieren. Aus anderen Kontexten wissen wir aber, dass KI fehleranfällig sein kann, manchmal sogar ohne, dass wir Menschen es anfangs bemerken. Gerade wenn es um etwas so Sensibles wie eine Krankheitsdiagnose geht, ist es aber wichtig, dass das Ergebnis der Datenauswertung korrekt ist.

Frau mit Handy

Foto: Egor Vikhrev / Unsplash.com

Mit Psychoinformatik Prävention, Behandlung und Nachsorge von Onlinesucht behandeln

Bildschirmzeit messen, Zugangsbeschränkungen, Sperren oder Zeitlimits einrichten, Bildschirm auf Graustufen umstellen, Werbeanzeigen filtern oder blockieren, soziale Interaktion messen, Bewegungsdaten auswerten, Emojis oder Schlüsselworte analysieren und einiges mehr. So oder so ähnlich könnte man digitale Fußabdrücke in eine technische Trickkiste gegen Mediensucht verwandeln. Eine Therapie ließe sich damit unterstützen, der Therapiefortschritt messen und das Rückfallrisiko auch nach der Behandlung noch im Auge behalten. Im Kontext der Prävention wären wir allerdings erstmal auf die freiwillige Nutzung solcher Tipps und Tricks angewiesen. Denn wie schon erwähnt: Datenschutz und Privatsphäre fungieren hier als Türsteher*innen.

Über die Daten zu Bildschirmzeit, Bewegung, Interaktion, Schlüsselworte und Emojis ließen sich vermutlich auch ein paar der klassischen Suchtkriterien erkennen:

  1. Gedankliche Vereinnahmung
  2. Toleranzentwicklung (Bildschirmzeit)
  3. Entzugserscheinungen (Schlüsselwörter/Emojis)
  4. Kontrollverlust (Weiternutzung trotz Sperren/Limits)
  5. Interessensverlust (Bewegung, Interaktion)
  6. Streit/Konflikte in Familie/Arbeit
  7. Lügen über Nutzung (Abgleich Selbstbericht und Tracking)
  8. Emotionsregulation (Schlüsselwörter/Emojis)

SCAVIS: Studie und Hilfsangebot zugleich

Du möchtest gerne wissen, ob dein Nutzungsverhalten noch im Rahmen oder schon problematisch ist? Und du möchtest selbst einmal ausprobieren, ob solche technischen Tricks wirklich helfen, dein Nutzungsverhalten in den Griff zu kriegen? Dann wäre vielleicht das Projekt SCAVIS etwas für Dich.

SCAVIS steht für „Stepped Care Ansatz zur Versorgung Internetbezogener Störungen“. Das Projekt möchte eine gesunde Internetnutzung fördern. Gleichzeitig untersuchen sie, wie wirksam E-Health-Methoden bei der Prävention und Behandlung Internetbezogener Störungen sind. Bei SCAVIS kommen dafür eine Smartphone-App, telefonischer Kurzberatungen und – falls eine auffällige Internetnutzung besteht – Online-Therapie zum Einsatz. Hier gibt es also einerseits Tipps und Tricks zur Selbsthilfe, falls das nicht ausreicht aber auch Unterstützung durch Expert*innen.

Um Deine Daten musst Du Dir hier übrigens keine Sorgen machen. Die Studie wurde durch die Ethikkommissionen der Universität zu Lübeck, der Freien Universität Berlin und der Ärztekammer Mainz geprüft und als ethischer unbedenklich bewertet. Zudem wurde SCAVIS hinsichtlich des Datenschutzes ausgiebig geprüft und genehmigt.

Wenn Du mehr über SCAVIS erfahren und vielleicht teilnehmen möchtest, dann besuche die Website des Projekts: https://www.scavis.net

Quellen

Smartphone filmt Feuerwerk Digitale Neujahrsvorsätze: 3 Ideen vom webcare+ Team Mehrere Menschen zeigen mit ihren FIngern auf einen Laptopbildschirm Internetnutzung 2021: Die neue ARD/ZDF-Onlinestudie ist da
Diesen Artikel Teilen auf:
Interessante Beiträge

Du hast Fragen oder Anregungen?

Schreib uns gerne eine Nachricht, wir helfen Dir weiter.