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Radio auf Küchenzeile

Foto: Harry Grout / Unsplash.com

Medienhygiene: Was kann ich tun, wenn Nachrichten mir nicht guttun?

12 Mai 2022

Lesezeit 7 Minuten

Von Corona-Pandemie bis Ukraine-Krieg – die Medien sind voll von schlechten Nachrichten. Ob Radio, Fernseher oder soziale Netzwerke: Graut es dir auch manchmal davor, was schon wieder Schlechtes in der Welt passiert ist? Wie gehst Du damit um? Versuchst Du, den Nachrichten komplett aus dem Weg zu gehen? Oder saugst du die schlechten Nachrichten auf wie ein Schwamm, obwohl du weißt, dass sie Dir nicht guttun? Maren Urner kennt beide Strategien, empfiehlt aber eine dritte: Medienhygiene. Maren Urner ist Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. Mit ihr haben wir über das Konzept der Medienhygiene gesprochen; und wie das mit Medienkompetenz, Fear of Missing Out und Mediensucht zusammenhängt.

Saskia Rößner: Frau Urner, Sie sind Neurowissenschaftlerin. Was genau macht man als Neurowissenschaftlerin?

Maren Urner: Die Neurowissenschaften kann man grob in drei Ebenen unterteilen: Die molekulare, die zelluläre und die systemische. Ich zähle mich zu den System-Neurowissenschaften. Grob gesagt ist sie die biologische Perspektive auf die Zusammenhänge, die wir in der Psychologie beschreiben. In beiden Disziplinen stellen wir die gleichen Fragen. So werden in beiden Wissenschaftsbereichen beispielsweise so etwas wie Gefühle, Gedächtnis, Sprache oder Entscheidungen erforscht. Während die Psychologie hauptsächlich mit Befragungen und Beobachtungen arbeitet, messen wir mittels moderner Technologie, was in unserem Körper, vor allem in unserem Gehirn dabei geschieht.

Maren Urner

Maren Urner / Foto: Lea Franke

Medien konzentrieren sich zu stark auf Negatives

Saskia Rößner: Wie kommt man als Neurowissenschaftlerin dazu, sich mit Medien und ihrer Wirkung auf den Menschen zu beschäftigen?

Maren Urner: Ich habe einen Missstand in der Berichterstattung beobachtet. Der bestand und besteht nach wie vor darin, dass ein zu negativer Fokus gesetzt wird. Die Medien berichten nicht nur häufiger über negative als über positive Ereignisse, sondern sorgen mit dem starken Fokus auf alles Negative bei uns allen für ein zu negatives, nicht der Realität entsprechendes Weltbild. Die Aufgabe des Journalismus ist es, abzubilden, was in der Welt passiert. Wenn er überwiegend negativ berichtet, wird er dieser Aufgabe aber nur teilweise gerecht.

Teilweise wird sogar wochen- oder monatelang monothematisch berichtet, also nur über ein großes Thema. Wir haben das 2020 bei der Pandemie und 2022 beim Russland-Ukraine-Krieg erlebt. Andere – vielleicht sogar wichtigere – Themen wie beispielswiese die Klimakrise, fristen in den Nachrichten dagegen eher ein Nischendasein.

Die neurowissenschaftliche Forschung aus den letzten Jahrzehnten zeigt, dass die einseitig-negative Berichterstattung uns und unser Gehirn nachhaltig negativ beeinflussen kann. Bekommen wir immer wieder gezeigt, wie schlecht die Welt doch ist und dass wir wenig oder gar nichts dagegen ausrichten können, fühlen wir uns häufig hilflos und gestresst. Diese „Erlernte Hilflosigkeit“ wird seit über 50 Jahren erforscht. Manche Menschen wenden sich irgendwann sogar komplett von den Medien ab. Das bezeichnen wir als „News Avoidance“ (Nachrichten-Vermeidung). Medienkonsum und Neurowissenschaften oder auch die Psychologie und andere verwandte Wissenschaften hängen hier also eng zusammen.

Doomscrolling tut uns nicht gut

Saskia Rößner: Hat das auch etwas mit dem Phänomen des „Doomscrollings“ zu tun?

„Doomscrolling und Doomsurfing beziehen sich auf die manchmal suchtähnliche Tendenz, weiterhin durch schlechte Nachrichten zu surfen oder zu scrollen, auch wenn diese Nachrichten traurig, entmutigend oder deprimierend sind.“ (Stangl 2022)

Maren Urner: Doomscrolling ist gegenüber News Avoidance das andere Extrem. Statt sich von den negativen Medienberichten abzuwenden, die einem nicht guttun, konsumieren einige Menchensie umso stärker. Unser Gehirn reagiert auf negative Reize schneller und besser als auf positive oder neutrale. Aus Sicht der Evolution ist das auch sinnvoll, um angemessen auf potentielle und reale Gefahren zu reagieren und überleben zu können. Unser Gehirn hat sich in dieser Funktionsweise seit der Steinzeit kaum verändert.

Zudem haben wir das Bedürfnis, immer auf dem aktuellsten Stand der Information zu sein. Das ist natürlich eine Illusion. In 24 Stunden passiert in der Welt so viel, dass wir nie im Leben alles verarbeiten könnten. Beim Medium Internet kommt noch hinzu, dass die Masse an Informationen schier unendlich ist. Es ist nie „fertig“ gelesen oder geschaut. Zudem kämpfen dort verschiedene Plattformen mithilfe psychologischer Tricks um unsere Aufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsökonomie). Das alles kann dazu führen, dass wir negative Nachrichten exzessiv bis pathologisch konsumieren.

Alter Fernseher auf Straße

Foto: Frank Okay / Unsplash.com

Joy of Missing Out statt Fear of Missing Out

Saskia Rößner: Spielt da auch Fear of Missing Out (FoMO) eine Rolle?

Maren Urner: Ja, die Angst, etwas zu verpassen, spielt da definitiv mit rein. Menschen sind soziale Wesen. Wir wollen mit unseren Mitmenschen in Kontakt kommen und bleiben. Wir wollen wissen, wie es ihnen geht und was sie machen. Dafür eignen sich soziale Medien ganz hervorragend. Aber auch hier ist die Anzahl an Beiträgen unendlich. Im Gegensatz zum Journalismus sehen wir in sozialen Medien aber oft nur die beschönigten Seiten: Das neue Smartphone, das hübsche Outfit, der tolle Urlaub und so weiter. Das kann in uns das Gefühl auslösen, ein schlechteres Leben zu führen als die anderen und nicht dazuzugehören.

Mittlerweile gibt es auch eine Gegenbewegung, die Joy of Missing Out (JoMO). Menschen, die gemerkt haben, dass es ihnen nicht guttut, ihr Handy die ganze Zeit bei sich zu haben und auf Neuigkeiten zu überprüfen, geben sich der Lust etwas „zu verpassen“ ganz bewusst hin. Die sozialen Medien sind – genau wie die „klassischen“ Medien – ja per se nichts Schlechtes. Die Frage ist nur, wie wir sie nutzen. Die Verantwortung für diese Frage sehe ich aber nicht nur bei uns Individuen, sondern auch bei den Plattformen und in letzter Konsequenz auch bei der Politik. Auf europäischer Ebene tut sich da gerade einiges.

Medienhygiene kann jede*r lernen

Saskia Rößner: Sie verwenden gerne den Begriff der Medienhygiene. Ist das schon diese Joy of Missing Out? Oder steckt dahinter noch mehr?

Maren Urner: JoMO ist ein Aspekt davon. Medienhygiene umfasst aber noch viel mehr. Den Begriff Hygiene verwende ich deshalb so gerne, weil Hygiene eine schützende Funktion hat. Spätestens seit der Pandemie wissen wir das nochmal sehr viel besser. Aber auch schon vorher: Wir duschen regelmäßig, putzen uns die Zähne, waschen vor dem Essen die Hände und trinken nicht aus Pfützen. Halten wir uns nicht an diese Standards, werden wir sehr wahrscheinlich krank: Karies, Bauchschmerzen, Magen-Darm-Infektionen oder ähnliches. Warum schützen wir unser sensibelstes Organ, unser Gehirn, also nicht ebenso gut durch psychologische und Verhaltens-Hygienemaßnahmen?

Ein Geheimrezept, dass für alle gleich gut wirkt, gibt es dabei übrigens nicht. Jeder Mensch muss für sich schauen, was und wie viel ihm guttut. Der erste Schritt ist immer, mir bewusst zu machen, wie ich Medien eigentlich konsumiere. Dazu kann beispielsweise ein Tagebuch genutzt werden oder die Bildschirmzeit oder digitales Wohlbefinden auf dem Smartphone. Der zweite Schritt ist dann, mich zu fragen, was tut mir gut und was tut mir nicht gut. Was möchte ich an meiner Mediennutzung ändern? Der dritte und letzte Schritt besteht darin, die Veränderungen wirklich anzugehen und Gewohnheiten zu ändern. Das ist natürlich immer das Schwierigste, das kennen wir vermutlich alle. Hilfreich kann es sein, mir andere Personen dazu zu holen, die mitmachen und/oder mich unterstützen.

Wenn wir da zurück auf das Thema Nachrichten und Medien kommen, sind zentrale Fragen: Welche Formate nutze ich (am liebsten)? Zum Beispiel Videos, Podcasts oder Artikel? Was davon brauche ich wirklich, um gut informiert zu sein? Welche Quellen sind zuverlässig und gut aufbereitet? Dann sind wir meines Erachtens nach bei einer guten Medienhygiene angekommen, die jede*r lernen kann.

Liegende Person hinter Radio

Foto: Eric Nopanen / Unsplash.com

Medienkompetenz und digitale Selbstbestimmung

Saskia Rößner: Das klingt ganz stark nach dem Zauberwort Medienkompetenz.

Maren Urner: Ja, das hat damit auch sehr viel zu tun. Wir müssen lernen, unser Gehirn besser zu schützen und zu nutzen. Und dazu müssen wir besser filtern und aussortieren. Nicht nur: Was tut mir gut und was nicht. Beispielsweise auch: Was sind wirklich Nachrichten und was sind Fake News? Was verdient wirklich meine Aufmerksamkeit und wo werde ich nur durch Werbung oder technisch-psychologische Tricks manipuliert? Wenn uns in der Fußgängerzone jemand eine Tüte über den Kopf ziehen und uns entführen würde, würden wir das ja auch nicht ohne Gegenwehr mit uns machen lassen. Mir geht es hier um digitale Selbstbestimmung. Wir sollten lernen, in der digitalen Welt nur das zu tun, was wir wirklich vorhaben und uns nicht von allerlei anderem ablenken oder vereinnahmen zu lassen. Und das hängt für mich ganz eng mit der Medienhygiene und letztlich auch mit unserer mentalen Gesundheit zusammen.

Saskia Rößner: Vielen Dank für das Interview!

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