Markus Schneider* war in der vierten Grundschulklasse, als er das erste Mal mit Pornografie in Berührung kam. Ab seinem 14. Lebensjahr konsumierte er regelmäßig Pornofilme und hielt dies lange Zeit für eine normale Freizeitbeschäftigung. Erst in seiner ersten Partnerschaft wurde ihm bewusst, dass er seine sexuelle Sozialisation ausschließlich über die Pornografie erfolgt war und sein bisheriges Erleben von Sexualität wenig mit der Sexualität in einer Partnerschaft zu tun hatte. Auch das Ausmaß seines Pornografie-Konsums erschien ihm jetzt nicht mehr normal. Dass er im Lauf der Zeit pornosüchtig geworden war, gestand er sich dann gut zehn Jahre später ein.
Thomas Baumeister* war Ende 40 und verheiratet, als er erstmals in Kontakt mit pornografischem Material kam. Er schaute sich zunächst nur gelegentlich, dann immer häufiger Pornofilme an, ohne seine Partnerin einzuweihen. Nach einigen Jahren entwickelte sich daraus eine Pornografie-Nutzungsstörung (PNS) – kurz: Pornosucht. Er sagt: „Es hat wirklich lange gedauert, bis ich begriff, dass ich suchtkrank bin. Heute hat sich mein sexuelles Erleben mittlerweile vom persönlichen Empfinden in einer Partnerschaft weit weg entwickelt. Ich erlebe Sexualität, aber sie spielt sich in einer virtuellen Welt ab. Meine größte Befürchtung ist daher, in der realen Welt nicht mehr klarzukommen und dass eine Partnerschaft nicht mehr klappen könnte.“
*Die Namen von Markus Schneider und Thomas Baumeister wurden von der Redaktion geändert.
Mangelhafter Jugendschutz bei Pornografie
Um anderen Betroffenen zu helfen, arbeiten Baumeister und Schneider im Beirat des Innovationsfonds-Projekts PornLoS mit und geben dort ihre Erfahrungen weiter. Im Rahmen des Projekts können Männer und Frauen, die an einer Pornografie-Sucht erkrankt sind, an einer Studie teilnehmen. Initiiert wurde das Projekt von Rudolf Stark, Professor für Psychotherapie und Systemneurowissenschaften, der sich an der Justus-Liebig-Universität Gießen schon seit fast zwei Jahrzehnten mit dem Thema der Pornografie-Sucht beschäftigt. Aus seiner Sicht sollte pornografisches Material für Personen unter 18 Jahren nicht zugänglich sein. „Junge Menschen benötigen eine verantwortungsvolle Art der Aufklärung. Das, was sie in pornografischen Darstellungen sehen, können sie nicht adäquat einordnen. Je früher Jugendliche mit dem Konsum beginnen, desto negativer beeinflusst dies die Entwicklung ihrer Sexualität und desto höher ist das Risiko, später eine Pornografie-Nutzungsstörung zu entwickeln“, sagt er.
Pornografie ist heutzutage im Internet mit wenigen Klicks verfügbar. Mit Smartphone, Tablet oder Computer können Kinder und Jugendliche jederzeit und von jedem Ort unbegrenzt darauf zugreifen. „Hier stimmen die gesetzlichen Vorgaben des Jugendschutzes mit der Realität überhaupt nicht überein. Der Jugendschutz müsste viel ernster genommen und beispielsweise eine echte Altersverifikation sichergestellt werden, damit nur Erwachsene Zugang zu Pornografie haben“, so Stark.
Das sagt auch Markus Schneider mit Blick auf sein eigenes Kind, das erst noch in das Alter kommen wird, in dem es sich vielleicht für Pornografie zu interessieren beginnt: „Es gibt so viele Schlupflöcher, da reicht es einfach nicht aus, bestimmte Inhalte im Internet zu sperren. Es wäre wichtig, schon bei jungen Menschen ein Bewusstsein für die Risiken des Internets zu schaffen und Medienkompetenz aufzubauen.“
Mehrere Faktoren als Auslöser einer Pornografie-Nutzungsstörung
Es ist aber nicht nur der frühe Konsum im Kindes- und Jugendalter, auch psychische Beschwerden und Probleme in anderen Lebensbereichen können zur Entwicklung einer PNS beitragen. „Zu den Faktoren, die eine zukünftige PNS begünstigen, zählen das männliche Geschlecht, subjektiver Stress, Impulsivität und fehlende Strategien im Umgang mit den eigenen Emotionen. In unserer Praxis beobachte ich, dass bei einigen Betroffenen die PNS vor allem der Regulation von Emotionen und Stress dient. Zum Beispiel konsumieren sie Pornos auf der Toilette, nachdem es zu belastenden Situationen am Arbeitsplatz gekommen ist“, sagt Dr. Schahryar Kananian, der dem Frankfurter Behandlungsteam des Projekts angehört.
„Es gibt Menschen, die häufig Pornografie konsumieren und nicht süchtig sind, und andere, die wenig Pornografie nutzen und bei denen sich eine PNS entwickelt“, sagt Professor Stark. Ein Indiz, das für ein Suchtverhalten spricht, ist der sogenannte Kontrollverlust. Viele Menschen möchten ihren Pornografie-Konsum reduzieren, weil er ihnen schadet und beispielsweise Probleme in der Partnerschaft entstehen: Die Partnerin fühlt sich betrogen oder gar bedroht. Oder es werden berufliche Verpflichtungen immer mehr vernachlässigt, weil sich irgendwann das ganze Leben um den Pornografie-Konsum dreht. „Wenn Betroffene die Nachteile ihres Konsums wahrnehmen, aber immer wieder feststellen, dass sie davon nicht loskommen, dann spricht man von Kontrollverlust. Das wäre der Punkt, an dem ich sagen würde, dass der oder die Betroffene therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen sollte“, sagt Stark.
Es gibt bislang kaum Anlaufstellen im ambulanten oder stationären Bereich, an die sich Menschen mit dem tabuisierten Störungsbild der Pornografie-Nutzungsstörung wenden können. Aus diesem Grund unterstützt die Techniker Krankenkasse (TK) das PornLoS-Projekt. „Menschen, die unter einer Pornografie-Nutzungsstörung leiden, erleben häufig einen erheblichen Leidensdruck. Daher ist unser Projekt ein erster und wichtiger Schritt, um sie zu unterstützen und die Versorgung nachhaltig zu verbessern. Dazu trägt auch die für das Projekt entwickelte App bei. Mit ihrer Hilfe können die Patientinnen und Patienten lernen, Risikosituationen besser einzuschätzen und Rückfälle zu reduzieren“, sagt Julia Englisch, Leiterin des PornLoS-Projekts bei der TK.
Therapieziele „Abstinenz“ oder „reduzierte Nutzung“ von Pornos
Das PornLoS-Projekt erprobt eine neue psychotherapeutische Versorgung für Betroffene zunächst in den drei Bundesländern Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland. Rund 320 Patienten und Patientinnen ab 18 Jahren können sich ab Februar 2024 im Rahmen der Studie professionell behandeln lassen. In Hessen finden sie in Frankfurt, Marburg, Gießen und Kassel Unterstützung. Im Behandlungsprogramm werden sie per Zufall auf verschiedene Therapiepfade verteilt, deren Therapieerfolg in der Studie verglichen wird. Eines der Programme verfolgt das Therapieziel „Abstinenz“, in dem auf Pornografie komplett verzichtet wird; ein anderes eine reduzierte Nutzung von pornografischem Material.
Als Mitglieder des PornLoS-Beirats nehmen Thomas Baumeister und Markus Schneider an der Studie selbst nicht teil. Dennoch möchten beide von der Pornografie loskommen. Eine komplette Abstinenz streben beide dabei nicht an. „Mein Ziel wäre es, ein Level zu erreichen, wie ich es auch beim Alkoholkonsum lebe. Ich trinke sehr wenig Alkohol, und wenn, dann ein gutes Glas Wein oder Whisky. Eine solche Teilabstinenz würde ich auch für den Konsum von Pornografie anstreben“, sagt Thomas Baumeister. Ähnlich betrachtet es Markus Schneider: „Meine Traumvorstellung wäre es, die Sucht mit einem moderaten Konsum von Pornos im Griff zu haben – allein deshalb, weil ich mit dem kompletten Verzicht immer wieder gescheitert bin.“
Hintergrundinformationen zu Pornografie-Nutzungsstörung
Studien zeigen, dass knapp 90 Prozent der Männer und 60 Prozent der Frauen zwischen 18 und 30 Jahren Pornografie nutzen. Experten gehen davon aus, dass etwa drei Prozent der Männer und knapp ein Prozent der Frauen von einer Pornografie-Nutzungsstörung betroffen sind. Bundesweit leiden schätzungsweise rund eine Million Menschen darunter.
Menschen, die pornografisches Material nutzen und sich fragen, ob ihr Konsum kritisch ist, können auf den Internetseiten des PornLoS-Projekts einen anonymen Selbsttest durchführen. Er hilft, das eigene Nutzungsverhalten besser einzuschätzen. Am Projekt können Versicherte aller gesetzlichen Krankenkassen teilnehmen und sich direkt auf der Projektseite für eine Teilnahme anmelden. Das Akronym PornLoS steht für „Pornografie-Nutzungsstörung effektiv behandeln – Leben ohne Suchtdruck“.
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