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Frau mit VR-Brille

Foto: Wilmer Martinez / Unsplash.com

Internetsucht bei Frauen – ein Sonderfall?

26 November 2020

Lesezeit 6 Minuten

Viele Menschen haben beim Stichwort Internetsucht ein klares Bild vor Augen: Ein junger Mann sitzt den ganzen Tag in einem abgedunkelten Zimmer und zockt Computerspiele. Bei manchen Betroffenen sieht das vielleicht tatsächlich so aus, bei Weitem jedoch nicht bei allen. Computerspiele sind nicht das einzige Internetangebot, nachdem wir ein suchtartiges Verhalten entwickeln können. Und es sind auch nicht nur junge Männer, die daran erkranken.

Unsere Onlineredakteurin Saskia Rößner hat die Psychologin Lara Scherer interviewt. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Ambulanz für Spielsucht der Uni Mainz. Auch wenn sie „Ambulanz für Spielsucht“ heißt: Erforscht und behandelt werden dort alle Arten von Onlinesucht. Lara Scherer beschäftigt sich unter anderem intensiv mit Internetsucht bei Frauen. Darüber wollten wir mehr erfahren.

Internetsucht bei Frauen: Social Media auf Platz 1

Saskia Rößner: Sind genauso viele Frauen von Internetsucht betroffen wie Männer?

Lara Scherer: Ja, Studien konnten zeigen, dass Frauen und Männer ähnlich häufig betroffen sind. Auch ist bei beiden Geschlechtern eine ähnlich starke Symptombelastung festzustellen, was bedeutet, dass beide Geschlechter ähnlich stark unter den Symptomen und Auswirkungen der Abhängigkeit leiden.

Saskia Rößner: Sind betroffene Frauen und Männer von den gleichen Internetangeboten abhängig?

Lara Scherer: Alle Internetangebote werden von beiden Geschlechtern verwendet und auch suchtartig genutzt. Es gibt jedoch eine starke Tendenz dahin, dass Männer vermehrt Online-Spiele suchtartig nutzen und Frauen eher zur suchtartigen Nutzung von Social Media-Angeboten neigen. Das spiegelt sich auch bezüglich der Nutzungsmotive internetbezogener Anwendungen wider. Männer nutzen das Internet vornehmlich instrumentell, um einen Zweck zu erfüllen. Frauen nutzen das Internet verstärkt sozial orientiert.

Frauen und Risikofaktoren für Internetsucht

Saskia Rößner: Sehen die Risikofaktoren bei beiden Geschlechtern gleich aus?

Lara Scherer: Es gibt Risikofaktoren, die allgemein der internetbezogenen Störungen zugeschrieben werden. Dazu zählt bei den Persönlichkeitsmerkmalen ein erhöhter Neurotizismus, also übersetzt eine geringere emotionale Stabilität. Ein weiter Risikofaktor ist eine verringerte Gewissenhaftigkeit, die in Verbindung mit strukturierter Zielorientierung, Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit steht. Andere Risikofaktoren sind erhöhte Stressanfälligkeit in Zusammenhang mit nicht gut funktionierenden Bewältigungsstrategien, soziale Unsicherheit sowie ein negatives Selbstbild.

Diese Risikofaktoren gelten für beide Geschlechter, wobei die Tendenz dahin geht, dass bei Frauen sowohl der Neurotizismus als auch die Gewissenhaftigkeit stärker ausgeprägt sind. Ein geringes Selbstwertgefühl und ein instabiles Selbstkonzept sind Risikofaktoren für eine abhängige Social Media Nutzung, zu der vermehrt Frauen neigen.

Frau mit Smartphone

Foto: Sunyu Kim / Unsplash.com

Saskia Rößner: Liegen bei Frauen die gleichen zusätzlichen Erkrankungen vor wie bei Männern?

Lara Scherer: Es gibt psychische Erkrankungen, die bei beiden Geschlechtern häufig komorbid auftreten. Darunter finden sich beispielsweise Depressionen, soziale Phobien oder bei Kindern und Jugendlichen ADHS. Auch sind häufig substanzgebundene Abhängigkeiten vorhanden, wie zum Beispiel Alkohol. Bei Männern tritt beispielsweise häufiger Glücksspiel auf. Frauen haben oft zusätzliche Erkrankungen in Richtung Essstörung und Persönlichkeitsstörung, vor allem die Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Frauen mit Internetsucht finden schlecht ins Hilfesystem

Saskia Rößner: Gibt es Unterschiede bei der Diagnose von Internetsucht bei Frauen?

Lara Scherer: Es gibt vor allem einen Unterschied, durch wen Männer und Frauen motiviert werden, Hilfe zu suchen. Männer kommen oft eigenmotiviert oder durch nahe Angehörige, wenn es sich z.B. um Jugendliche handelt. Sie sehen, dass sich das Gaming verselbstständigt hat und sie es nicht mehr selbst kontrollieren können. Frauen werden meist durch Vorbehandler*innen zur Suchthilfe geschickt. Sie sind oftmals wegen anderer Leiden in Behandlung, im Zuge derer sich dann herausstellt, dass sie die Kontrolle über die Internetnutzung verloren haben.

Saskia Rößner: Finden Frauen und Männer gleichermaßen gut ins Hilfesystem?

Lara Scherer: Nein. Es gibt noch immer eine Diskrepanz von 90 Prozent Männer und 10 Prozent Frauen in den suchtspezifischen Hilfesystemen. Das ist natürlich ein sehr großer Unterschied, wenn man bedenkt, dass beide Geschlechter ähnlich häufig von Internetsucht betroffen sind.

Internetsucht bei Frauen: Verbesserungsbedarf in Forschung und Praxis

Saskia Rößner: Wo sehen Sie noch Forschungsbedarf in puncto Internetsucht bei Frauen?

Lara Scherer: Da bislang meist Männer in die Versorgung kommen, wurde auch meist an Männern die Erkrankung erforscht. Das hat sich in den letzten Jahren bereits verändert und die Frauen sind weiter in den Fokus gerückt. Dennoch gibt es hier noch einige Forschungsjahre aufzuholen. Auch wurde besonders viel zu Online-Spielen geforscht, die anderen Anwendungen, wie z.B. Streaming, Social Media oder Online-Pornografie rücken nun auch weiter in den Forschungs-Blick.

Saskia Rößner: Wo sehen Sie Verbesserungsbedarf in der Praxis, beispielsweise in Beratungsstellen?

Lara Scherer: Internet- und Medienabhängigkeit wird noch viel zu wenig erkannt, wenn sich die Betroffenen nicht genau deswegen bei Ärzt*innen oder Therapeut*innen vorstellen. Daher wäre es schön, wenn bei Behandelnden, aber auch beim näheren Umfeld, verstärkte Sensibilität diesbezüglich stattfinden würde.

Bei Internetabhängigkeit hat man immer noch den zurückgezogenen Gamer im Kopf. Aber das Störungsbild ist wesentlich vielfältiger und betrifft auch andere Anwendungen. Diese erscheinen vielleicht auf den ersten Blick nicht so gravierend wie ein Computerspieler, der 12 Stunden seines Tages im dunklen Zimmer vor dem PC sitzt.

Daher braucht es ein angepasstes Angebot. Denn die Therapie und Beratung für die genannte Zielgruppe und für beispielsweise Frauen, die Social Media-abhängig sind, werden sich schon unterscheiden müssen. Das sieht man alleine daran, dass sich so wenige Frauen an das spezifische Suchthilfesystem wenden.

Notausgang

Foto: DDP / Unsplash.com

Selbsthilfegruppen für onlinesüchtige Frauen?

Saskia Rößner: Kennen Sie eine Selbsthilfegruppe, die speziell für mediensüchtige Frauen ist? Falls nicht: Glauben Sie, dass hier ein Bedarf besteht?

Lara Scherer: Ich kenne leider keine Selbsthilfegruppe speziell für medienabhängige Frauen. Diese Gruppe der Betroffenen ist ja immer noch viel zu sehr im Hintergrund, was gezielt darauf zugeschnittene Hilfen und Anlaufstellen anbelangt. Es besteht definitiv ein Bedarf, nicht nur für Frauen, sondern auch ganz allgemein.

Saskia Rößner: Vielen Dank für die spannenden Einblicke in Ihre Forschungsarbeit!

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