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Halb zugeklappter Laptop

Foto: Filiberto Santillan/Unsplash

Internetabhängigkeit: Eigene Krankheit oder nur ein Symptom?

02 Juli 2020

Lesezeit 8 Minuten

Die wissenschaftliche Community interessiert sich bereits seit dem letzten Jahrhundert für internetbezogene Verhaltensstörungen. Mit der Aufnahme der Computerspielsucht in den internationalen Diagnosekatalog ICD-11 ist die Diskussion neu entfacht. Ist Computerspielsucht wirklich ein eigenständiges Krankheitsbild? Oder nur das Symptom einer anderen Erkrankung, wie beispielsweise einer Depression? Und was ist mit der Sucht nach sozialen Netzwerken oder anderen Internet-Angeboten? Gibt es Internetabhängigkeit wirklich?

Das Center for Behavioral Addiction Research (CeBAR) der Universität Duisburg-Essen beschäftigt sich intensiv mit Verhaltenssüchten. Dort wird gleich aus mehreren Perspektiven und in mehreren Projekten zum Thema Internet und Suchtverhalten geforscht. Unsere Online-Redakteurin Saskia Rößner hat die wissenschaftliche Mitarbeiterin Annika Brandtner interviewt.

Verlgleich von Stoffsucht und Verhaltenssucht

Saskia Rößner: Frau Brandtner, Sie und das Team um Prof. Dr. Matthias Brand forschen zu „kognitiven und emotiven Korrelaten exzessiven Spielens von Internetcomputerspielen und der pathologischen Nutzung von sozialen Netzwerkseiten“. Was bedeutet das?

Annika Brandtner: Richtig, dies ist eines von mehreren Projekten zur potentiell pathologischen Internetnutzung. Hier beschäftigen wir uns mit den grundlegenden Mechanismen von diesen beiden Verhaltensmustern, also der problematischen Nutzung von Computerspielen und sozialen Netzwerkseiten. Hinter den kognitiven und emotiven Korrelaten verbirgt sich folgendes: Wir schauen uns an, auf welche Weise Gefühle, Gedanken und äußere Reize verhaltenssteuernd verarbeitet werden.

Playstation-Controller

Foto: Luis Villasmil/Unsplash

Der Grundgedanke: Wir vergleichen bereits bekannte Verarbeitungsprozesse, die mit Substanzabhängigkeiten (zum Beispiel Alkohol- und Drogensucht) assoziiert sind, mit jenen nicht-substanzgebundener Verhaltensweisen, die suchtähnliche Tendenzen annehmen können. Für die Computerspielsucht ist dies in den letzten Jahren schon geschehen, bis sie 2019 in den ICD-11 aufgenommen wurde. Bei der problematischen Nutzung von sozialen Medien ist das noch nicht der Fall – hier fehlt bisher die nötige Forschung. Wir nehmen allerdings an, dass es sich dabei auch um eine Verhaltenssucht handeln könnte.

Um auf diese Forschungslücke aufmerksam zu machen, stellt das Projekt Forschungsarbeiten zu Verarbeitungsprozessen (beispielsweise Aufmerksamkeitsverzerrungen oder Entscheidungsverhalten) bei sozialen Netzwerkseiten und Forschungsarbeiten zum suchtartigen Computerspielen gegenüber. Lassen sich Prozesse aufdecken, die bei beiden gleich funktionieren, ist das ein Hinweise darauf, dass sich die problematische Nutzung sozialer Netzwerkseiten gut durch diese Suchtprozesse beschreiben lässt, mitunter besser als beispielsweise durch Mechanismen zwanghaften Verhaltens.

Neben Computerspielen und der Nutzung sozialer Medien untersuchen wir ähnliche Fragestellungen auch für Online-Shopping oder Internet-Pornographie-Nutzung.

Einkaufsmeile

Foto: Alexander Propov/Unsplash

Ist Internetabhängigkeit wirklich eine Sucht?

Saskia Rößner: Also geht es in ihrer Forschung darum, zu untersuchen, ob es sich bei der krankhaften Nutzung von Internet-Angeboten wie Sozialen Medien tatsächlich um eine Suchterkrankung handelt?

Annika Brandtner: Genau. Es gibt nun mal Menschen, die Probleme mit speziellen Internet-Angeboten haben. In der Forschung gibt es jedoch manchmal Unstimmigkeiten darüber, welches Krankheitsmodell ein neues Phänomen am besten beschreibt. Unser Team möchte die mentalen Prozesse internetbasierter Verhaltensphänomene aufdecken. So können wir abschätzen, ob es sich um suchtartige Verhaltensweisen handelt.

Mit ausreichend einschlägiger Forschung aus mehreren Disziplinen könnte die Abhängigkeit von sozialen Medien als Suchterkrankungen in den Diagnosekatalog aufgenommen werden, so wie dies schon für die Computerspielsucht und die Glücksspielsucht geschehen ist.

So bekämen erkrankte Menschen die Möglichkeit, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, die auf das Krankheitsbild zugeschnitten ist und kassenärztlich abgerechnet werden kann. Ohne die Aufnahme in den Diagnosekatalog können solche Störungen nur als Begleiterkrankung zu einer Grunderkrankung behandelt werden.

Spieler sitzt vorm Computer und spielt Computerspiel

Foto: christianat/Pixabay

Wie kann man herausfinden, ob Internetabhängigkeit eine richtige Sucht ist?

Saskia Rößner: Sie kommen aus der Kognitionspsychologie. Sind an der Forschung noch weitere wissenschaftliche Disziplinen beteiligt?

Annika Brandtner: Definitiv. Die Kognitionspsychologie beleuchtet ja nur einen kleinen Teil dieser Verhaltensweisen. Neben uns forscht die Genetik daran, welche Zusammenhänge es eventuell zwischen unseren Genen und psychologischen Faktoren der Suchtentwicklung gibt. Forschung im Bereich der sozialen Arbeit überprüft beispielweise fortwährend Beratungsangebote. Und die klinische Psychologie widmet sich der Frage, welche Behandlungsmethoden erfolgsversprechend sind. Es ist enorm wichtig, sich mit diesen anderen Disziplinen auszutauschen. Daher fahren wir regelmäßig auf Konferenzen, auf denen wir uns mit anderen Wissenschaftler*innen treffen und schauen uns an, was unsere Kolleg*innen herausfinden. Im CeBAR forschen wir aber grundlegend kognitions- bzw. neuropsychologisch.

Saskia Rößner: Und wie sieht diese Art der Forschung konkret aus?

Annika Brandtner: Unsere Methoden sehen so aus: Unseren Studien liegen maßgeblich theoretische Modell-Annahmen zugrunde. Ein spezielles Modell zu Verhaltensabhängigkeiten ist das Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) Modell. Es fasst Prozesse zusammen, die an der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Verhaltenssucht beteiligt sein könnten. Damit bietet es die Grundlage, um zu prüfen, inwieweit die Prozesse verschiedener Verhaltensabhängigkeiten ähnlich oder unterschiedlich sind.

Wie andere psychologische Disziplinen versuchen wir, mentale Prozesse messbar zu machen. Dazu nutzen wir beispielsweise Online-Fragebögen zur Selbsteinschätzung. Wir arbeiten aber auch experimentell im Labor mit computerbasierten Tests zur Reaktionskontrolle oder zum Entscheidungsverhalten im Suchtkontext.

Ein Teil unseres Teams erforscht auch neurophysiologische Prozesse. Hierfür legen wir Proband*innen in einen Magnet-Resonanz-Tomographen (MRT) und schauen uns an, welche Hirn-Areale aktiv sind, während unsere Proband*innen Bilder von Suchtreizen (beispielsweise einen Screenshot aus einem Computerspiel) sehen oder gewisse Aufgaben erledigen. Auf diese Weise können wir untersuchen, wie das Gehirn bei einer Suchtentwicklung und -aufrechterhaltung arbeitet.

Tastatur

Foto: Mateo Vrbnjak/Unsplash

Herausforderung: Geeignete Testpersonen finden

Saskia Rößner: Mit welchen und wie vielen Menschen arbeiten Sie in ihren Studien?

Annika Brandtner: Wir arbeiten in unserer Forschung größtenteils mit gesunden Proband*innen, also Personen, die sich nicht in Behandlung befinden. Denn auch bei einer gesunden Stichprobe findet sich häufig eine Bandbreite an Menschen, die überhaupt kein Problem mit Internetangeboten haben, bis hin zu solchen, die bereits suchtartige Tendenzen zeigen. Auf diese Weise können wir Entstehungsprozesse suchtartigen Verhaltens untersuchen. Bei solchen gesunden Stichproben liegt die Teilnehmerzahl meist zwischen 100 und 500.

Für unseren Psychologen, Dr. Patrick Trotzke, oder in Kooperation mit klinischen Einrichtungen ist es allerdings etwas schwieriger, erkrankte Proband*innen zu finden, weil es nicht so viele Patient*innen gibt und die Anreise aus umliegenden Städten eine Hürde darstellt. Die Fallzahlen liegen hier deutlich niedriger, in der Regel bei 20 bis 100 Teilnehmenden pro Studie.

Internetsabhängigkeiten ähneln anerkannten Süchten

Saskia Rößner: Zurück zur Frage, ob Internetabhängigkeit wirklich eine Sucht ist. Sind hier schon Ergebnisse absehbar?

Annika Brandtner: Hierzu muss man sagen, dass es zur Computerspielsucht und Glücksspielsucht, die ja nun bereits anerkannte Suchterkrankungen sind, entsprechend viel mehr Studien gibt als zu einer möglichen Sucht nach sozialen Netzwerken. Genau dafür gibt es bei uns das CeBAR: Wir wollen für mehr Erkenntnisse und Aufklärung sorgen.

Wir sehen aber in unseren Ergebnissen, dass gewisse Mechanismen, die an anerkannten Suchterkrankungen beteiligt sind, auch bei Menschen mit krankhaftem Online-Shopping, Pornographie-Konsum oder der problematischen Nutzung von sozialen Netzwerkseiten messbar sind. Hier finden wir beispielsweise eine verringerte Reaktionskontrolle oder einen verstärkten Drang, ein bestimmtes Internetangebot zu nutzen. Das sind Hinweise darauf, dass es sich bei diesen Verhaltensweisen um suchtartiges Verhalten handeln könnte.

Spielautomat mit Facebook Logo

Foto: Pete Pedroza/Unsplash

Computerspielsucht: Krankheit oder Hobby?

Saskia Rößner: In der wissenschaftlichen Community gehen die Meinungen zum Thema Internetabhängigkeit, vor allem Computerspielsucht, stark auseinander. Es gibt Forscher*innen, die diese Störung tatsächlich für eine Sucht halten. Andere nehmen an, die suchtartige Internetnutzung sei nur das Symptom einer tieferliegenden Erkrankung. Wieder andere kritisieren, ein zeitintensives Hobby würde hier über-pathologisiert, also schlimmer geredet als es in Wirklichkeit ist. Wie stehen Sie dazu?

Annika Brandtner: Wir betrachten die Aufnahme der Gaming Disorder in den ICD-11 als richtig. Aber wir sind nur ein Teil der Forschungsgemeinschaft. Andere sind der Überzeugung, dass es vielleicht nur ein sehr lieb gewonnenes Hobby sein könnte. Ein Stück weit möchte ich der Gegenseite auch Recht geben: Wir dürfen ein Hobby natürlich nicht über-pathologisieren. Es gibt einen großen Teil der Bevölkerung, der es schafft, Computerspiele und andere Internetangebote in gesundem Maße zu nutzen, also nach einer gewissen Zeit wieder damit aufzuhören und sich anderen Aktivitäten zu widmen.

Allerdings sollten wir Verhaltensweisen ernst nehmen, wenn sie Symptome einer Abhängigkeit zeigen – die Häufigkeit von krankhaftem Computerspielen bewegt sich etwa zwischen 3 und 5 Prozent der Bevölkerung. Es gibt also tatsächlich Menschen, die extreme Probleme damit haben, mit dem Spielen aufzuhören, und die sehr darunter leiden. Da wird teilweise die ganze Nacht durchgespielt und die Schule oder der Job vernachlässigt. Manche verlieren ihren Job auch oder ihre Beziehung geht deswegen in die Brüche. Und um sich von den schlechten Gefühlen abzulenken, die durch diese Ereignisse entstehen, wird weiter gespielt – ein Teufelskreis! Das kann bei anderen Nutzungsstörungen ähnlich aussehen.

Dieser Ambivalenz sind wir uns bewusst. In gewisser Weise ist es also eine Gratwanderung, einerseits Internetnutzung nicht zu über-pathologisieren, andererseits aber suchtartiges Verhalten ernst genug zu nehmen und den Betroffenen Hilfe anzubieten. Die Forschung wird da auf jeden Fall weiterhin am Ball bleiben.

Saskia Rößner: Vielen Dank für das Interview!

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