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Vogelhaus

Foto: ThomasRuffershoefer / Picabay.com

Auxilium Reloaded – Wohngruppe für Menschen mit riskantem Medienkonsum

10 März 2022

Lesezeit 8 Minuten

Therapieangebote für Betroffene von Onlinesucht gibt es inzwischen glücklicherweise immer mehr. Manche davon sind ambulant, das heißt dass die Betroffenen weiterhin zuhause wohnen und nur für einzelne Termine zu den Therapieangeboten kommen. Andere Angebote sind stationär, beispielsweise der Aufenthalt in einer Suchtklinik. Wohngruppen für Menschen mit Internetsucht sind allerdings noch rar. Für Menschen, die an einer stoffgebundenen Sucht (Alkohol, Tabak, Drogen, Medikamente) leiden, gibt es so etwas schon länger. Wir haben mit Eva Harlake gesprochen. Sie leitet das Auxilium Reloaded. Eine Wohn-Einrichtung speziell für Menschen mit Mediensucht.

Auxilium Reloaded: Fitness, Freizeit, Medienzeit

Saskia Rößner: Auxilium Reloaded ist eine therapeutische Facheinrichtung für Jugendliche und junge Erwachsene mit riskantem Medienkonsum. Wie kann ich mir eine solche Einrichtung vorstellen?

Eva Harlake: Wir haben zwei Standorte. Der Hauptstandort liegt in einem Stadtteil außerhalb von Dortmund, quasi in einem kleinen Dorf. Wir haben dort ein großes Gebäude, in dem einerseits ein Intensiv-Wohnbereich liegt. Darin können bis zu 14 Menschen wohnen, aufgeteilt in zwei Wohngruppen. Jede Wohngruppe verfügt über einen großen gemeinsamen Wohnbereich mit einer integrierten Küche. Jede Person bekommt ein Einzelzimmer und eines der Gemeinschaftsbadezimmer zugeteilt. Im Keller gibt es einen Fitnessraum, einen Freizeitraum und einen PC-Raum. Ein kleiner Außenbereich ist ebenfalls vorhanden.

Außerdem gibt es in diesem Gebäude noch einen Bereich zur Verselbständigung, eine separate 2-Zimmer-Wohnung. Dort können zwei Bewohner*innen einziehen, die vorher im Intensiv-Wohnbereich gelebt haben. Bevor sie außerhalb von Auxilium Reloaded eine eigene Wohnung beziehen, können sie hier das eigenständige Wohnen erproben. Die Wohnung verfügt über zwei Einzelzimmer, eine gemeinsame Wohnküche und ein gemeinsames Badezimmer. Hier lernen die Bewohner*innen, sich selbst zu verpflegen und die Nutzung ihrer digitalen Endgeräte selbstständig zu regulieren.

Im Hauptstandort ist eine 24-Stunden-Betreuung gegeben. 15-20 Minuten mit dem Fahrrad entfernt haben wir seit Anfang des Jahres noch eine weitere 2-Personen-Wohnung angemietet, die ebenfalls für die Verselbständigung genutzt wird. Diese Bewohner*innen werden regelmäßig von uns besucht, aber dennoch ist das Gefühl natürlich ein anderes, wenn wir nicht rund um die Uhr in greifbarer Nähe sind.

Drei junge Männer an Fitness-Geräten

Foto: Auxilium Reloaded / Malteser

Auxilium Reloaded: Hohe Nachfrage

Saskia Rößner: Sind die 14 Wohnplätze denn immer belegt? Gibt es öfters auch mal freie Plätze oder eher lange Wartelisten?

Eva Harlake: Wir sind in der Regel schon stark frequentiert. Hin und wieder gibt es aber auch ruhigere Phasen, beispielsweise wenn ein Schuljahr endet und jüngere Bewohner*innen wieder nach Hause ziehen. Dann haben wir auch schon mal 1-2 Plätze frei.

Saskia Rößner: Wer darf denn überhaupt im Auxilium Reloaded wohnen?

Eva Harlake: Das Aufnahme-Alter ist bei uns 12 bis 21 Jahre, in Ausnahmefällen auch mal 22 oder 23 Jahre, falls die Person ansonsten gut reinpasst und es eine*n Kostenträger*in gibt. Eine bestimmte Diagnose brauchen die Interessierten nicht, da es lange Zeit auch gar keine passende Diagnose bezüglich des Medienkonsums gab. Das kommt jetzt erst mit der neuen ICD-11.

Einige unserer Bewohner*innen waren vorher im Klinikkontext und haben eine alternative Diagnose, aber nicht alle. Das ist also kein Muss. Es geht uns eher darum, dass die Leute zu unseren anderen Bewohner*innen und zu unserem Konzept passen. Das klären wir in einem ersten Info- und Kennenlerngespräch.

Bewohner*innen kommen aus ganz Deutschland

Saskia Rößner: Nehmen Sie nur Jugendliche aus dem Umkreis von Dortmund auf?

Eva Harlake: Nein, unser Einzugsgebiet ist bundesweit. Ich weiß nicht, ob es inzwischen vergleichbare Einrichtungen gibt. In den letzten sieben Jahren waren wir meines Wissens nach die einzige Einrichtung dieser Art und mit diesem Schwerpunkt. Deswegen ist es gar nicht selten, dass wir Anfragen aus anderen Bundesländern bekommen. Die Jugendlichen wechseln dann auf eine hiesige Schule und fangen bei uns neu an. Oder sie nehmen an einer Maßnahme zur Berufsvorbereitung teil. Der Neustart tut vielen gut.

Saskia Rößner: Wie lange wohnen die Jugendlichen durchschnittlich bei Ihnen?

Eva Harlake: Es gibt keinen fixen Zeitraum und bisher auch keine Obergrenze. Wie lange jemand bei uns bleibt, hängt von der Entwicklung der jeweiligen Person ab. Im Schnitt sind es ein bis zwei Jahre, die sie bei uns bleiben. Wenn der Verselbständigungsbereich dazu kommt, können es auch mal 2,5 Jahre sein. Wenn danach immer noch eine Betreuung nötig oder gewünscht ist, gibt es beispielsweise die Möglichkeit einer ambulanten Betreuung in der eigenen Wohnung.

Hausregeln für Mediennutzung

Saskia Rößner: Gibt es im Auxilium Reloaded besondere Hausregeln in Bezug auf die Mediennutzung?

Eva Harlake: Ja, wir haben dafür ein Stufenmodell. Erstmal haben die Jugendlichen keine Medien auf ihren Zimmern, keine Computer, Tablets, Spielekonsolen oder ähnliches. Dort ist lediglich eine Musikanlage erlaubt. Fernseher gibt es nur in den Gruppenräumen und in der Regel nur abends. Falls die Jugendlichen eine eigene Konsole oder einen PC besitzen, werden diese in einem separaten Raum eingeschlossen und stehen in den ersten Wochen erstmal nicht zur Verfügung. Zugang zu ihren Handys haben sie allerdings von Anfang an.

Die ersten zwei Wochen gelten bei uns als Zeit zum Ankommen und Kennenlernen, in der sie das Handy noch den ganzen Nachmittag und Abend nutzen dürfen. Nachts müssen diese aber abgegeben werden. In dieser Zeit dürfen auch die PCs im PC-Raum oder im Gruppenraum für Recherchen und Streamingdienste genutzt werden, nicht jedoch für Computerspiele.

Junger Mann am Computer

Foto: Auxilium Reloaded / Malteser

Nach den zwei Wochen kommen die Bewohner*innen in die Stufe 1, das bedeutet eine Stunde Mediennutzung pro Tag. In dieser Phase geht es vor allem um Therapie, Tagesstruktur, Schule oder Ausbildung, soziale Kontakte und alternative Freizeitaktivitäten. In der Stufe 2 gibt es dann drei Stunden tägliche Medienzeit, dann Stufe 3 mit fünf Stunden. Ab der Stufe 2 darf auch der eigene Computer bzw. die Konsole wieder genutzt und Spiele gespielt werden, wofür sich die Bewohner*innen aber Karten erarbeiten müssen.

Nach langem Aufenthalt, kurz vor Auszug oder in der Verselbständigung geht es dann in die Kompetenzphase, in der den Jugendlichen 24/7 das eigene Handy und andere digitale Endgeräte zur Verfügung stehen. In der Verselbständigung gibt es nicht von Anfang an rund um die Uhr Internetzugang, aber das ist das Ziel. Die Idee hinter der Verselbständigung ist ja, dass die Jugendlichen lernen, die Nutzung ihrer digitalen Endgeräte selbst zu regulieren.

Keine digitale Abstinenz im Auxilium Reloaded

Saskia Rößner: Das heißt, eine komplette Abstinenz von digitalen Medien gibt es bei Ihnen nicht?

Eva Harlake: In der Regel nicht. Unsere Arbeitsgrundlage ist nicht Abstinenz, sondern Kompetenz. Wir schauen eher, wie wir Medien in den Alltag einbauen können. Oder wie man sich gegenüber einzelnen medialen Angeboten abstinent verhalten kann. Zum Beispiel wenn wir merken, dass generell Videospiele oder speziell Onlinespiele keine gute Idee sind. Aber im Prinzip geht es uns bei allen, die zu uns kommen, erstmal darum, Medienkonsum beizubehalten. Anfangs ist der zwar deutlich reduziert, weil so viele andere Themen auf dem Plan stehen. Aber wenn die erstmal eingespielt sind und gut laufen, dann kann der Medienkonsum auch schrittweise erhöht werden.

Jedoch nur, solange die anderen Sachen weiterhin funktionieren. Denn die Stufen unseres Modells sind keine Einbahnstraße. Wenn Therapie, Schule oder andere Aktivitäten aufgrund der Mediennutzung vernachlässigt werden, können die Bewohner*innen auch wieder zurückgestuft werden. Manchmal gibt es auch Einzelfälle, die so sehr am Handy hängen oder die Mitarbeit in der Therapie verweigern, dass wir sie kurzzeitig auf Abstinenz setzen. Wenn nichts anderes mehr wirkt oder funktioniert, ist das manchmal nötig. Aber das ist nicht der gängige Ablauf bei uns.

Drogensucht und Mediensucht passen nicht zusammen

Saskia Rößner: Sie haben erwähnt, dass das Auxilium Reloaded lange Zeit einzigartig war oder immer noch ist. Was hat Sie bewogen, die Einrichtung zu gründen?

Eva Harlake: Wir gehören zu den Malteser-Werken, die deutschlandweit mehrere Einrichtungen der Jugendhilfe betreiben. In Hamm haben wir eine Einrichtung, die „Auxilium“ heißt und sich um Jugendliche mit Suchtmittelabhängigkeit kümmert. Dort gab es immer häufiger Anfragen für Jugendliche, die in Bezug auf Medien ein suchtähnliches Verhalten gezeigt haben. Uns ist relativ schnell klar geworden, dass es wenig Sinn hat, diese beiden Gruppen von Jugendlichen in eine Wohngruppe zu behandeln. Das würde den Bedürfnissen beider Gruppen nicht gerecht, weil andere Themen und Therapieschwerpunkte wichtig und die Regeln für die Mediennutzung unterschiedlich sind. Daher haben die Malteser entschieden, eine eigene Einrichtung für riskanten Medienkonsum zu gründen und so ist das Auxilium Reloaded entstanden.

Vier junge Menschen beim gemeinsamen Frühstück

Foto: Auxilium Reloaded / Malteser

Hoher Bedarf an Einrichtungen wie Auxilium Reloaded

Saskia Rößner: Wie schätzen Sie den Bedarf an solchen Einrichtungen ein?

Eva Harlake: Es bräuchte auf jeden Fall mehr davon! Auch für andere Altersstufen. Wir wollen die Spannweite nicht zu groß greifen, damit die Jugendlichen in der Gruppe auch noch gut zusammenpassen. Wir bekommen aber auch Anfragen von Jüngeren und Älteren. Für jüngere Kinder ist es oft nicht sinnvoll, sie einmal quer durch die Bundesrepublik ziehen zu lassen. Da ist die Bindung zu den Eltern in der Regel noch zu stark ausgeprägt und auch wichtig. Die wollen wir dann da nicht rausreißen. Für junge Erwachsene gibt es zwar inzwischen bundesweit viele Therapieangebote. Allerdings sind die nach ein paar Wochen oder Monaten beendet und die Leute sitzen dann wieder alleine zuhause, obwohl sie noch eine Nachsorge bräuchten. Gerade die ist in Deutschland aber viel zu schwach ausgebaut. Es gibt da also an allen Ecken und Enden Bedarfe.

Zusammenarbeit mit Eltern und Bildungsstätten

Saskia Rößner: Beziehen Sie auch die Eltern in Ihre Arbeit mit ein?

Eva Harlake: Ja, Elternarbeit ist bei uns ganz wichtig, vor allem bei den jüngeren Jugendlichen, die nach dem Aufenthalt bei uns wieder zu ihren Eltern ziehen. Die Jugendlichen besuchen ihre Eltern auch regelmäßig, während sie bei uns in Therapie sind. Aber auch hier vor Ort arbeiten wir mit den externen Strukturen zusammen, also Schulen, Ausbildungsbetriebe, Praktikumsstätten und so weiter. So stellen wir sicher, dass wir zeitnah mitbekommen, wenn jemand schwänzt oder etwas anderes grundsätzlich schiefläuft. Die Kommunikation mit Kooperationspartner*innen ist sehr wichtig für uns.

Saskia Rößner: Danke für das Interview!

Weitere Infos zum Auxilium Reloaded

Hier geht’s zur Internetseite des Auxilium Reloaded.

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