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Screenshot von Kai Müller aus dem Podcast Mediensucht verstehen

Mediensucht erkennen: Mediennutzung nicht reduzieren können (S01E05)

08 Oktober 2025

Lesezeit 9 Minuten

Information: Das hier ist das Transkript zu einer Podcastfolge. Wenn du die Podcastfolge stattdessen lieber anhören oder ansehen möchtest, findest du die Links dazu am Ende des Textes.

Saskia Rößner: Woran erkennt man Mediensucht? Eines der Kriterien ist Kontrollverlust. Das heißt, entweder du spielst gerade und willst aufhören. Oder du willst insgesamt deine Bildschirmzeit reduzieren. Aber es klappt einfach nicht. Und was da sonst noch dranhängt, das schauen wir uns heute gemeinsam an!

Herzlich willkommen zu „Mediensucht verstehen“ dem Podcast der Hessischen Landestelle für Suchtfragen, gefördert durch die Techniker Krankenkasse in Hessen. Mein Name ist Saskia. Mit mir hier im Studio ist Kai Müller. Hallo Kai.

Kai Müller: Hallo Saskia.

Saskia Rößner: Kai, du bist unser Experte für Mediensucht und wir gucken uns in dieser Staffel an, wie man Mediensucht überhaupt erkennt. Denn mit der Bildschirmzeit ist es nicht getan. Wir haben uns in der ersten Folge die Liste an medizinischen Kriterien angeguckt, die zu Rate gezogen werden, wenn es um Mediensucht geht, und heute gucken wir uns das vierte Kriterium an, das vierte von neun. Dieses heißt Kontrollverlust. Kontrolle ist ja erst mal was Gutes, Kontrolle verlieren etwas Schlechtes – das ist soweit logisch. Aber was genau heißt das denn in Bezug auf Mediensucht?

Medien nutzen müssen, ohne es kontrollieren zu können

Kai Müller: Kontrolle zu verlieren, kann ja auch manchmal ganz schön sein, wenn man sich in irgendeinem Hobby einfach ganz hineingibt, sich darin verliert und nicht die ganze Zeit das Gefühl hat, „jetzt ist aber auch mal gut“. Aber genau wie du sagst, wenn wir über Suchtverhalten sprechen, ist Kontrollverlust tatsächlich eines der Kriterien, das für Betroffene auch mit am meisten Leidensdruck verursacht. Weil die Betroffenen einfach merken, sie können nicht mehr frei entscheiden: Wann konsumiere ich, wie lange konsumiere ich und wann lasse ich es mal bleiben?

Das ist ein ganz wichtiger Punkt, warum Patientinnen und Patienten sich ganz häufig bei uns in Ambulanz vorstellen. Sie sagen, dass es früher einfach nur so ein Bestandteil ihres Lebens war und Spaß gemacht hat. Es war ein Puzzleteil aus all dem, was ihr Leben ausgemacht hat und wo sie sich mit wohlgefühlt haben. Mittlerweile ist es aber kein Puzzleteil mehr, sondern es ist das einzige Puzzleteil, an dem sie sich festkrallen können. Sie können es nicht loslassen, auch wenn sie merken, es tut ihnen nicht gut.

Der Konsum – also sei es von Computerspielen, von sozialen Netzwerken oder von Onlinepornografie – geht nicht anders. Sie müssen das machen, ohne es regulieren zu können. Sie können nicht sagen „Jetzt lasse ich es mal eine Woche bleiben“. Also Hintergrund vom Kontrollverlust ist, dass diese Entscheidungsfreiheit abhandenkommt. Also wann nutze ich und wann eben nicht, und wie lange nutze ich und wann nutze ich ein bisschen weniger?

Saskia Rößner: Im Kern stellt sich also die Frage: Kontrolliere ich mein Handy oder kontrolliert mein Handy mich?

Kai Müller: Perfekt auf den Punkt gebracht. Nicht nur in Bezug aufs Handy, sondern generell. Das kann auch der Gaming PC sein oder das Tablet oder so. Aber genau das trifft’s.

Nur mal kurz die Uhrzeit checken…
Eine Stunde bei Instagram gewesen

Saskia Rößner: Was ich von mir selbst kenne, ist, ich will eigentlich auf die Uhr gucken — ich habe keine Armbanduhr — nehme das Handy raus, will die Uhrzeit checken, sehe, dass es da irgendwelche Benachrichtigungen gibt und schwupps mache ich etwas ganz anderes. Beantworte eine E-Mail oder eine WhatsApp oder so. Dann stecke ich das Handy wieder weg und denke „Moment, warte mal, ich wollte doch eigentlich die Uhrzeit checken“. Fällt das auch darunter?

Kai Müller: Im Kleinen schon, aber nicht im klinisch relevanten Sinne, also nicht krankhaft. Das ist das, was die modernen Bildschirmmedien mit dieser Interaktionskomponente mit uns machen. Die provozieren das auch ein bisschen und ich rede jetzt wirklich von modernen Bildschirmmedien, nicht vom guten alten Analogfernseher oder so etwas, weil da konnte man als Nutzerin oder als Nutzer nicht aktiv eingreifen. Es gab sogar mal ganz früher, die Älteren werden sich erinnern, so was wie ein Sendeschluss. Unvorstellbar, wenn man jetzt an neue Medien denkt.

Saskia Rößner: Ich kenne noch Bernd, das Brot.

Kai Müller: Ja okay, immerhin. Also das Wichtige ist, sobald man die Möglichkeit eingeräumt bekommt, auch aktiv auf das Geschehen einzugreifen, neigt man dazu, einem Automatismus nachzugehen und zu sagen „Ich wollt zwar nur auf die Uhr gucken, aber wenn ich sehe, dass da fünf Mails offen sind, gucke ich mir die Mails kurz an und vielleicht beantworte ich die dann auch, wenn ich schon drin bin. Oder eben die Messenger-Nachrichten usw. Im weitesten Sinne fällt es schon unter Kontrollverlust, aber nicht unter den klinisch relevanten.

Medien nutzen, obwohl man eigentlich anderes zu tun hat

Saskia Rößner: Okay, und wenn ich beispielsweise eine Nachricht bei Instagram bekomme, will ich die beantworten, bleibe dann hängen und nach einer Stunde merke ich, ich habe jetzt eine Stunde einfach durch Instagram gescrollt, obwohl ich eigentlich was ganz anderes zu tun habe. Vielleicht muss ich arbeiten, vielleicht habe ich eigentlich einen Termin und hätte schon längst losgehen müssen, aber ich habe vollkommen die Zeit vergessen.

Kai Müller: Ja, das ist tatsächlich Kontrollverlust im klinischen Sinne. Das sehen wir ganz häufig bei unseren Patientinnen, vor allem betroffene Frauen – aber zum Teil auch Männer – mit einer suchtartigen Nutzung von sozialen Medien oder sozialen Netzwerken. Diese Personen berichten genau das, was du eben geschildert hast, dass sie eigentlich nur ganz kurz mal gucken wollten und stattdessen infinity scrollen.

Saskia Rößner: Infinity Scrollen = Endloses Weiterwischen.

Kai Müller: Ja, genau. Dieses endlose Weiterwischen sorgt dafür, dass ein Effekt, den wir in der Psychologie „Immersion“ nennen, auftritt. Immersion bedeutet, dass man sich komplett vom Geschehen auf dem Bildschirm absorbieren lässt und darüber das Zeitgefühl verloren geht. Und dann merken die Betroffenen, dass vielleicht nicht nur eine Stunde vergangen ist, sondern gerne auch zwei, drei Stunden.

Nur noch 5 Minuten…
Die Zeit aus dem Blick verlieren

Saskia Rößner: Okay, dann geht es also noch schlimmer. Da habe ich noch Luft nach oben (Erleichterung). Was ich beim Gaming ganz oft mache, ist, dass ich auf die Uhr gucke und sage „So eine halbe Stunde habe ich noch. Ich mache jetzt noch das Level oder die Quest fertig“ oder „ich laufe jetzt noch bis da und dahin“ oder „ich gucke jetzt noch mal hier in den Dungeon rein“, aber bei der halben Stunde bleibt es dann auch nicht. Ich merke schon, das ist das gleiche Prinzip oder?

Kai Müller: Es ist im Grunde das gleiche Prinzip. Aber wie gesagt, man muss halt bei den Kriterien immer ein bisschen aufpassen, dass man es auch nicht überdramatisiert. Weil so ein Kontrollverlust passiert uns im Alltag auch ganz häufig, wenn wir schöne Sachen machen. Und dagegen steht bei einem Suchtverhalten, dass man, auch wenn man merkt, das hat schon wieder nicht geklappt, dass man es trotzdem nicht schafft, gegenzusteuern. Also zu sagen „okay, das ist jetzt eindeutig zu viel. Ich übertreibe“. Und das ist der wichtige Punkt.

Wenn man im Alltag momentweise mal aus einer Chipstüte 20 Chips zu viel ist, – das kennt man ja auch, kennen wir auch alle – dann hat man noch lange keine Binge Eating Disorder, also keine Essstörung. Sondern das ist halt einfach was, das gehört zu unserem täglichen Leben dazu, dass man Sachen im Kleinen übertreibt. Aber man merkt „oh Gott, das ist jetzt nicht nur bei einer Chipstüte geblieben, sondern das sind irgendwie 345 geworden und die habe ich alle leer gefuttert“. Dann sollte man gucken, „okay, schaffe ich es vielleicht mal eine Woche auf Chips zu verzichten oder vielleicht auch ein bisschen länger“? Und wenn man das nicht schafft, dann sind wir wieder im klinischen (= krankhaften) Spektrum von Kontrollverlust.

Und das Gleiche gilt für Medienkonsum.

Mediensucht: Kein freier Wille mehr

Saskia Rößner: Hm, wie sieht das bei der Pornografie aus?

Kai Müller: Ja, ganz ähnlich. Also da ist es auch so, dass die Betroffenen einfach diesem Drang nicht widerstehen können, in die Nutzung zu gehen und auch mal zu sagen, „ich gucke nur ganz kurz rein, was gibt es vielleicht auf dem Portal, das ich abonniert habe oder das da so mein Favorit ist? Was gibt es da Neues“? Und es bleibt nicht dabei, dass sie nur ganz kurz gucken, was ist denn da Neues? Sondern sie mussten das dann auch wirklich sich angucken und konsumieren. Dann sind wir da auch im Kontrollverlust.

Also auch wenn es dann mal in einer eigentlich ganz inadäquaten (= unpassenden) Situation passiert. Also nicht nur Pornokonsum, auch das Zocken und die sozialen Netzwerke. Wenn sich das in Zeiträumen ereignet, in denen eigentlich andere Sachen im Vordergrund stehen sollten, zum Beispiel auf einer Party. Oder man hat gerade angefangen zu arbeiten oder man möchte eigentlich schlafen, ist müde und eigentlich total erschöpft, aber trotzdem wird man sozusagen rein gesaugt in den Konsum, wo man sagt „oh, mir fallen die Augen zu, ich habe jetzt so Bock zu schlafen, das würde mir so guttun“ und man muss trotzdem in den Konsum gehen. Dann sind wir beim Kontrollverlust.

Saskia Rößner: Also der freie Wille ist dann einfach nicht mehr da. Ich kann das quasi gar nicht mehr frei entscheiden. Ich hör jetzt auf oder ich mach weiter. Sondern das ist wie ein Zwang, aus dem ich gar nicht rauskomme.

Kai Müller: Es ist einerseits ein Zwang und auf der anderen Seite ist es der Verlust an dieser bewussten Steuerungsfähigkeit. Man ist im Konsum drin und kann einfach nicht mehr entscheiden, wie viel war das jetzt eigentlich und wie viel ist das gerade? Und ist das nicht schon viel zu viel?

Medien statt Arbeit, Medien statt Schlafen

Saskia Rößner: Ein gesunder oder unkritischer Konsum von Medien wäre demnach, wenn ich sagen kann „okay, ich zocke jetzt noch eine halbe Stunde“ und das kriege ich dann auch hin. Oder ich sage, ich bin total müde, ich hätte eigentlich schon Bock, mir noch eine halbe Stunde TikTok anzugucken, aber ich muss morgen früh raus. Es ist jetzt schon so spät und ich gehe lieber ins Bett, weil ich genau weiß, sonst bin ich morgen total gerädert.

Kai Müller: Ja, ich würde bei beiden Beispielen zustimmen. Ich finde es immer wichtig, das Leben nicht so ganz grau klingen zu lassen. Also ich würde es einfach anders formulieren. Das letzte Beispiel: Man ist müde. Ob man jetzt morgen früh raus und irgendwas leisten muss, sei mal dahingestellt. Aber man ist einfach müde und freut sich eigentlich aufs Schlafen und auf das Bett. Da würde ich sagen, ist das doch erst einmal das wichtigere Bedürfnis, als zu sagen „okay, ich bin zwar müde und freue mich aufs Bett, aber TikTok geht vor“. So würde ich es sehen.

Das mit der Arbeit ist natürlich nochmal etwas anderes. Das ist schon auch ein wichtiges Beispiel, auf jeden Fall. Aber wichtig ist, dass auch diese biologischen Grundbedürfnisse ihre Wertigkeit behalten. Und die werden halt beim Thema Kontrollverlust ausgehebelt.

Saskia Rößner: Und wenn ich jetzt merke, dass mir das schon ab und an mal passiert. Oder mir ist es vielleicht auch immer öfter passiert, dass ich da so die Zeit aus dem Blick verliere oder auch alles andere um mich herum vergesse. Und ich will das nicht, ich will mich wieder so ein bisschen in die positivere Richtung bewegen. Hast du ein Tipp für uns?

Tipp zu Selbsthilfe: Timer stellen

Kai Müller: Bleiben wir mal beim Beispiel Zocken. Ich habe es ja vorhin gesagt: Dieser Immersionseffekt, dass man die Zeit verliert, wenn man drin ist im Konsum und was dann? Was hilft, was man machen kann, ist ein Signal, so ein Wecker zum Beispiel. Oder man muss ja nicht unbedingt analog denken. Wenn man die Möglichkeit hat, kann man natürlich auch digital was einstellen, was einem Benachrichtigungen auf dem Bildschirm beamt, dass man sagt „okay, ich möchte jetzt eine Runde zocken, es sollte aber auf jeden Fall nicht länger als eine Stunde sein“. Und wenn die Stunde abgelaufen ist, dann kriegt man das Signal, weil man da sonst einfach nicht so mit rechnet in dem Moment. Und das kann dann schon helfen.

Auch ein gutes Hilfsmittel ist, sich einfach nutzungsfreie Zeiträume zu definieren, also dass man sagt „okay, ich habe zwischen 20 und 21 Uhr meiner Zockerzeit und danach ist aber auch gut“. Also dass man eine Routine schafft. An so Routinen denkt man meist nicht, aber das ist tatsächlich ein psychologisch gesehen ganz wichtiges Hilfsmittel für unsere Lebensführung in allen Bereichen, dass man sich so Rituale und Routinen verinnerlicht. Und die geben auch Orientierung und entmachten den inneren Schweinehund auch ein bisschen.

Saskia Rößner: Also einerseits Wecker stellen, also sei es jetzt die altmodische Eieruhr oder der digitale Timer am Handy. Oder inzwischen gibt es das ja auch bei Instagram zum Beispiel, dass man das einstellen kann: „Hey, erinnere mich nach 30 Minuten, dass meine heutige Bildschirmzeit oder meine heutige Instagramzeit vorbei ist.“ Und es gibt da glaube ich auch extra Apps für, bei denen man sagen kann „Hey, ich muss jetzt eine Stunde lang konzentriert arbeiten an diesem Projekt, lass mich jetzt eine Stunde lang das Handy nicht mehr entsperren“ und das Handy dann quasi auf unseren Wunsch hin streikt. Oder ich habe eine Stunde irgendwas anderes schön, wo das Handy mich bei stören könnte.

Kai Müller: Genau.

2. Tipp zur Selbsthilfe: Medienfreie Räume einrichten

Saskia Rößner: Und die medienfreien Zeiten oder Räume: Für mich ist das zum Beispiel das Bett. Aber ich kann mir zum Beispiel auch voll gut vorstellen bei Familien der Esstisch. Dass man sagt „Hey, wenn wir abends zusammenkommen und wir wollen essen, dann bleibt das Handy im Wohnzimmer beispielsweise und keiner geht dort ran. Auch nicht, wenn es vibriert. Sondern wir essen jetzt entweder in Ruhe zusammen oder tauschen uns einfach mal aus, wie der Tag so war.“

Kai Müller: Ja, und genau diese Raum-Sache ist auf jeden Fall auch super.

Saskia Rößner: Danke für deine Tipps. Und wenn ihr noch mehr Tipps braucht, dann guckt doch gerne auf unserer Website vorbei. Da gibt es nicht nur Selbsthilfe-Tipps, sondern auch professionelle Hilfsangebote, falls ihr mit den Tipps alleine nicht mehr weiterkommt. Die Website findet ihr auf www. webcare plus.

Ihr habt bestimmt auch die ein oder andere Frage an Kai. Die könnt ihr ihm stellen am Ende dieser Staffel. Da gibt es nämlich ein Online-Live-Format mit dir, Kai. Das ist am 9. Dezember 2025 von 13 bis 15 Uhr. Tragt es euch schon mal in eure Kalender ein.

Und ansonsten kann ich euch nur raten, abonniert diesen Podcast, damit ihr keine Folge verpasst. Lasst uns gerne ein paar Sterne da. Und wenn ihr in dem, was Kai uns heute erzählt hat, jemanden wiedererkannt habt, dann teilt diese Folge gerne mit dieser Person, damit die Person sich vielleicht Hilfe sucht. Danke fürs Zuhören und bis nächste Woche.


Digitale Sprechstunde mit Kai Müller:

Link zur Sprechstunde am 9. Dezember 2025

Podcast anhören oder ansehen:

Screenshot von Saskia Rößner aus dem Podcast Mediensucht verstehen Mediensucht erkennen: Immer mehr Medien brauchen (S01E04)
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