Information: Das hier ist das Transkript zu einer Podcastfolge. Wenn du die Podcastfolge stattdessen lieber anhören oder ansehen möchtest, findest du die Links dazu am Ende des Textes.
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Saskia Rößner: Woran erkennt man eigentlich Mediensucht? Eines der Kriterien ist Emotionsregulierung. Klingt kompliziert, ist es aber gar nicht. Eigentlich geht es nur darum, dass du Medien nutzt, um dich dauerhaft von schlechten Gefühlen abzulenken. Ich bin sehr gespannt darauf, was unser Experte dazu sagt.
Herzlich willkommen zu „Mediensucht verstehen“, dem Podcast der Hessischen Landestelle für Suchtfragen, gefördert durch die Techniker Krankenkasse in Hessen. Mein Name ist Saskia und mit mir hier im Studio ist unser Experte Kai Müller. Hallo Kai, herzlich willkommen!
Kai Müller: Hallo Saskia.
Saskia Rößner: Wir wollen uns hier angucken, was genau wir unter Mediensucht verstehen. Dazu haben wir uns in der allerersten Folge eine Liste von Kriterien angesehen. Von dieser Liste schauen wir uns heute das achte von neun Kriterien an. Wir sind also in der vorletzten Folge. Das heutige Kriterium heißt Gefühlsregulierung. Es geht also um Gefühle. Und Kai, erklär uns doch mal, was mit Gefühlsregulierung gemeint ist.
Kai Müller: Mach ich gerne oder ich versuch‘s gerne. Das ist ein relativ anspruchsvolles Kriterium, muss man sagen. Für viele Leute ist es nicht so ein griffiger Begriff. Viele Leute verwechseln Gedanken mit Gefühlen. Sie sagen zum Beispiel, dass sie sich Sorgen machen. Sorge ist aber kein Gefühl, sondern ein Gedanke. Angst wäre zum Beispiel ein Gefühl. Für manche ist das ein bisschen schwierig zu differenzieren.
Und der Zusatz „Regulierung“ macht es auch nicht einfacher. Was heißt Regulierung? Gibt es Schräubchen, wo ich die Angst runter regulieren oder dran drehen kann, oder gibt es eine Snooze-Taste für Emotionen oder Gefühle? Von daher ist das gar nicht so einfach.
Saskia Rößner: Dann ist es ja gut, dass wir heute dazu eine ganze Folge machen, damit wir es am Ende der Folge hoffentlich alle verstanden haben.
Gefühle kann man nicht abschalten
Kai Müller: Ja, hoffentlich. Mit dem Kriterium ist gemeint, wenn wir im Zusammenhang mit Mediensucht darüber reden, dass der Konsum bzw. die Nutzung nicht mehr deswegen so exzessiv und ausufernd ausfällt, weil man so viel Spaß daran hat, sondern umgekehrt. Man hat eher das Gefühl, „mir geht es damit nicht gut“. Der Medienkonsum ist zu viel. Man kommt mit seinen täglichen Aufgaben nicht mehr hinterher. Man hat nicht mehr so viel Spaß am Leben wie früher, trifft sich nicht mehr mit anderen Leuten.
Und aus dieser schlechten Gefühlslage hat man dann den Drang, wieder in den Konsum und die Nutzung zu gehen, um sich abzulenken, um die Gefühle zu regulieren. Damit man nicht mehr dran denken muss, nicht mehr fühlen muss, sondern die Gefühle erst mal beiseiteschieben kann.
Saskia Rößner: Ist denn Gefühle abschalten überhaupt möglich? Also Gefühle regulieren und ein bisschen runter regeln vielleicht. Aber Gefühle abzuschalten, klingt jetzt erst mal sehr radikal.
Medien: Kleines Pflaster für (zu) große Wunde
Kai Müller: Ja, das funktioniert ja auch nicht. Man kann Gefühle nicht abschalten. Die bleiben da, auch wenn man sich mal kurz mit der Gefühls Snooze-Taste von denen entfernt und Distanz schafft. Die sind danach nicht weg. Die haben ja einen Grund, warum sie da sind. Es gibt ja einen Grund, warum ich mich wirklich blöd fühle oder unglücklich oder hilflos oder verlassen oder frustriert oder verängstigt oder ärgerlich.
Man kann sich die Bildschirm-Medien-Zeit wie ein Pflaster für eine Wunde vorstellen, die eigentlich zu groß für ein Pflaster ist und genäht werden sollte. Diese Wunde wird nicht heilen. Das ist zwar erst mal abgedeckt — von wegen, es stört ja jetzt nicht mehr — die Wunde bleibt aber da, im Verborgenen.
Saskia Rößner: Okay, also wenn du sagst, irgendwas stimmt im Leben nicht, deswegen bin ich total traurig, eigentlich schon seit längerem, dann kann ich mich zwar eine Stunde mit einem Spiel, was mir richtig Spaß macht und wo ich dann in dem Moment, in dem ich spiele, auch wieder gute Gefühle habe, vielleicht ablenken. Oder vielleicht kann ich das auch den ganzen Tag über machen, acht, neun, zehn Stunden. Aber diese eigentliche Wunde, die eigentliche Ursache dafür, dass ich seit Wochen so traurig bin, die geht dadurch ja nicht weg.
Mediensucht: Betäubung statt Spaß
Kai Müller: Die geht nicht weg. Aber ich würde trotzdem auch an der Stelle noch mal anbringen, dass es nicht darum geht, etwas zu machen, was einem Spaß macht. Das wäre dann wiederum eine gesunde Gefühlsregulation. Wenn man weiß, es tut einem zum Beispiel gut, sich mit Freunden zu treffen oder irgendein Computerspiel zu nutzen, Super Mario Brothers oder Tetris oder irgendwas, was mir wirklich Spaß macht. Bei Mediensucht allerdings erhoffen sich die Betroffenen keinen Spaß von dem Konsum, sondern wirklich nur Betäubung und Ablenkung.
Saskia Rößner: Okay. Das heißt, ich kann Medien schon auf eine positive Art einsetzen, um Gefühle zu regulieren.
Kai Müller: Ja, auf jeden Fall.
Saskia Rößner: Mal kurz eine Runde zocken.
Kai Müller: Ja klar.
Saskia Rößner: Mir fällt auch ein, was ich ganz gerne mache ist, einfach meine Lieblingsmusik hören, wenn ich so richtig schlechte Laune habe. Spätestens nach einer Stunde ist die Welt für mich eigentlich wieder in Ordnung. Ich tanz dann sogar in meiner Wohnung alleine vor mich hin. Wäre das also eine positive Art, wie man mithilfe von Medien – in dem Fall Musik – Gefühle regulieren kann?
Kai Müller: Absolut, das trifft es ziemlich genau. Wichtig ist es, bei diesem Kriterium zu gucken, wann man denn eigentlich zum Beispiel Computerspiele, Online-Pornografie oder soziale Netzwerke nutzt. Macht man es, weil man da jetzt richtig Lust drauf hat, weil es einem Spaß macht und einem guttut?
Oder nutzt man es, weil man so einen emotionalen, gefühlsmäßigen Schubser im Rücken hat, der sagt „Du kriegst doch mittlerweile gar nichts mehr hin. Du bist doch verzweifelt, frustriert, hast dich vorhin total geärgert. Jetzt setz dich nicht mit diesem Gefühl, der Frustration, der Angst, dem Ärger auseinander, sondern vergiss das einfach. Komm zu mir ins Spiel, ins soziale Netzwerk, in die Online-Pornografie. Wir vergessen das zusammen“. Das ist ein wichtiger Unterschied. In der Psychologie nennt man das auch negative Verstärkung. Das heißt, man sucht keinen positiven Effekt, sondern will über den Konsum einen negativen Zustand, also was Unangenehmes, beseitigen.
Saskia Rößner: Okay, dann ist der Begriff „Regulierung“ eigentlich schon ein bisschen am Thema vorbei, oder? Weil es wirklich nur darum geht, in dem Moment nichts mehr zu fühlen oder zumindest das, was man gefühlt hat, nicht mehr zu fühlen, und wenn an diese Stelle auch keine positiven Emotionen rücken, wie zum Beispiel „Ich habe Spaß“ oder „Ich habe im Game Erfolgserlebnisse. Ich bin die stärkste Kämpferin in meinem Clan“. Diese positiven Gefühle scheine ich gar nicht mehr zu haben, wenn ich mediensüchtig bin.
Medien als einziges Mittel zur Gefühlsregulierung
Kai Müller: Na ja, die kann man natürlich schon auch noch haben. Sonst hätten wir nicht diese Dynamik, dass das Spiel einen immer weiter reinzieht. Die kommen schon punktuell vor, aber das Wichtige bei dem Kriterium ist, warum fange ich jetzt überhaupt mit der Nutzung an? Liegt es daran, weil ich Lust darauf habe, weil ich die beste Kämpferin im Spiel bin, weil es mir total Spaß macht, das Spiel zu nutzen?
Oder liegt es daran, dass ich wirklich von meinem negativen, schlechten Gefühlszustand reingedrückt werde? Dass dann im Spiel positive Emotionen auftreten, keine Frage, aber das Wichtige ist das Motiv. Warum nutze ich es jetzt gerade, und vor allem so lange?
Das liegt oft daran, dass man Ärger, Angst, Frustration, Traurigkeit usw. im wahrsten Sinne des Wortes weg spielen möchte. Das kann auch durchaus funktionieren. Du hast gesagt, du tanzt dann gerne oder hörst deine Lieblingsmusik. Hier müssen wir uns wieder daran erinnern, dass dieses Kriterium so definiert ist, dass das sehr regelmäßig auftritt. Man hat sozusagen keine andere Möglichkeit. Ein mediensüchtiger Patient oder Patientin würde, wenn es ihm oder ihr schlecht geht, nicht auf die Idee kommen, die Lieblingsmusik anzuschalten und am nächsten Tag das Spiel zu spielen, und am dritten Tag eine Runde Sport zu machen und sich am vierten Tag mit Freunden zu treffen oder das Lieblingsessen zu kochen.
Saskia Rößner: Das heißt da wäre der Griff automatisch zum Medium der Wahl.
Kai Müller: Genau, automatisch. Das ist das Problem.
Mediensucht: Der Spaß tritt in den Hintergrund
Saskia Rößner: Du hast eben richtiggestellt, dass ich mich nicht automatisch in Sicherheit wiegen kann, nur weil ich positive Gefühle im Spiel habe. Von wegen, „Na ja, wenn ich noch Spaß empfinde, dann kann ich ja gar nicht mediensüchtig sein“. Das heißt, da können wir die Grenze leider nicht ziehen, sondern es geht wirklich darum, wie man seine Gefühle, die im Leben auftauchen, verarbeitet, und ob man sie aus der psychologischen Perspektive auf sinnvolle, konstruktive Weise verarbeitet oder ob man sagt „Ne, ich will mich mit der Verarbeitung gar nicht beschäftigen. Ich setze mich jetzt lieber hin und scrolle drei Stunden durch Instagram. Hauptsache, ich muss nicht mehr über das blöde Zeug nachdenken, was mir heute sonst so durch den Kopf geht“.
Kai Müller: Oder noch extremer ausgedrückt: Hauptsache, ich muss mich nicht mehr mit mir und meiner Gefühlslage beschäftigen und auseinandersetzen. Hauptsache ich fühle mich taub und die Gefühle, die ich nicht einordnen kann, bei denen ich aber merke, die fühlen sich nicht gut an, sind erstmal weg. Das ist der springende Punkt.
Und zum Thema Spaß haben: Ich finde gut, dass du es erwähnt hast, denn hier kann man schon eine gewisse Grenze ziehen. Es ist in der Regel so, dass bei den computerspielsüchtigen Patientinnen und Patienten der Spaß nicht mehr im Vordergrund steht. Die Erfolgsmomente und die Glücksgefühle tauchen sporadisch auf, aber im Grunde ist es eine Verhaltensroutine geworden.
Um einen meiner Patienten zu zitieren, einen jungen Mann: „Inzwischen spiele ich ja gar nicht mehr, weil es Spaß macht, sondern höchstens noch, weil ich mich daran erinnere, dass es irgendwann mal Spaß gemacht hat“. Das trifft es, glaube ich, ziemlich gut.
Saskia Rößner: Okay. Das klingt ein bisschen traurig.
Kai Müller: Ja, wir reden nun mal über eine Krankheit. Über eine Krankheit freut man sich nicht. Die ist in der Regel traurig.
Gefühle erfolgreich regulieren: Vielfalt statt Einseitigkeit
Saskia Rößner: Gibt es da noch andere Arten, wie man mit Medien auf eine positive Art Gefühle regulieren kann? Ich habe das Beispiel Musik und Tanzen bei schlechter Laune gewählt. Was fällt dir sonst noch so ein?
Kai Müller: Was bei schlechter Stimmung tatsächlich immer hilft, auch wenn es sich banal anhört, ist Bewegung. Also einfach eine Runde losrennen.
Saskia Rößner: Das ist jetzt aber nichts mit Medien.
Kai Müller: Mit Medien nicht. Aber man kann zum Beispiel, wie Du schon gesagt hast, Musik hören. Es spricht auch nichts dagegen, ein Computerspiel zu nutzen.
Saskia Rößner: Oder mal ein oder zwei Folgen einer Serie gucken?
Kai Müller: Ja, mal etwas streamen ist auch völlig in Ordnung. Manche Leute sind sogar noch im stolzen Besitz von VHS Videokassetten. Warum dann nicht den Film anschauen, den man damals mühevoll – ich spreche aus Erfahrung – aufgenommen hat?
Saskia Rößner: Der Lieblingsfilm aus der Kindheit?
Kai Müller: Ja, zum Beispiel. Warum nicht? Wie gesagt, es geht nicht darum, die Medien zu verteufeln. Die haben schon auch ihre positiven emotionsregulativen Effekte. Wichtig ist, wenn wir uns über das Krankheitsbild Mediensucht bzw. Internetsucht austauschen, dass sich Betroffene in der Bredouille befinden, dass ihnen einfach nichts anderes mehr einfällt, als über Medien ihr Gefühlschaos zu bewältigen. Das ist ein wichtiger Punkt. Normalerweise haben wir ein breites Spektrum, über das wir uns wieder regulieren können, wenn es uns nicht gut geht. Bei Medienabhängigkeit bleibt halt nur das Medium.
Tipp: Kickboxen, Joggen, Laufen gegen Ärger und Wut
Saskia Rößner: Und zu diesem breiten Spektrum zählt dann auch, wie du schon sagtest, Bewegung. Ich kenne das zum Beispiel, wenn ich sauer bin — auf jemanden oder auf irgendeinen Umstand. Manchmal sind es auch nur die Umstände, die so großen Ärger verursachen, für die niemand wirklich etwas kann. Dann gehe ich zum Beispiel sehr gerne spazieren und zwar richtig schnellen Schrittes. Oder du hast noch joggen gesagt. Ich kenne Leute, die gehen Kickboxen, damit sie auf irgendwas einschlagen können, um ihre Wut rauszulassen.
Das bedeutet, je größer die Palette ist, die man zur Gefühlsregulierung hat, desto besser? Ich erinnere mich gerade auch an unsere Folge zum Interessensverlust zurück. Wenn diese ganzen anderen Sachen wegfallen und irgendwann nur noch die Medien übrig bleiben und ich automatisch immer zu Medien greife, wenn ich mich schlecht fühle und gar nicht mehr weiß, wie ich mir in so einem emotionalen, aufgewühlten Zustand sonst weiterhelfen kann, dann ist das ein Alarmsignal.
Kai Müller: Das ist auf jeden Fall ein Alarmsignal.
Saskia Rößner: Okay, jetzt hab‘ ich‘s verstanden. Danke Kai.
Kai Müller: Nichts zu danken.
Mehr Tipps und Hilfe bei Mediensucht
Saskia Rößner: Wenn ihr mehr Tipps braucht, wie ihr Gefühle gut regulieren könnt oder auch wie ihr generell Mediensucht vorbeugen könnt, dann guckt euch doch auf unserer Website um. DHier findet ihr außerdem auch noch Kontaktadressen von professionellen Hilfsangeboten, beispielsweise von Beratungsstellen.
Und wenn ihr Fragen an Kai habt, dann könnt ihr ihm diese am 9. Dezember 2025 stellen. Da treffen wir uns nämlich gemeinsam in einem Online-Live-Format. Tragt euch das schon mal in den Kalender ein.
Nächste Woche sprechen wir hier über das letzte der neun Kriterien, und zwar über Konflikte. Ich bin schon sehr gespannt, zu hören, was genau sich dahinter verbirgt. Kai, du hattest schon erwähnt, dass Konflikte dazu gehören. Ich bin gespannt, ab welchem Punkt es kritisch wird.
Wenn ihr unsere nächste und letzte Folge und auch die nächste Staffel nicht verpassen wollt, dann abonniert unseren Podcast. Lass uns gerne ein paar Sterne da und teile diese Folge mit anderen Menschen, bei denen du die Vermutung hast, dass Gefühlsregulation ein Thema sein könnte.
Danke und bis nächste Woche!
Digitale Sprechstunde mit Kai Müller:
Link zur Sprechstunde am 9. Dezember 2025
Mediensucht erkennen: Über die eigene Mediennutzung lügen (S01E08)