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Screenshot von Saskia Rößner aus dem Podcast Mediensucht verstehen

Mediensucht erkennen: Über die eigene Mediennutzung lügen (S01E08)

29 Oktober 2025

Lesezeit 8 Minuten

Information: Das hier ist das Transkript zu einer Podcastfolge. Wenn du die Podcastfolge stattdessen lieber anhören oder ansehen möchtest, findest du die Links dazu am Ende des Textes.

Saskia Rößner: Woran erkennt man Mediensucht? Eines der Kriterien ist die Unehrlichkeit. Das heißt, wenn man andere Leute schon mal über seine Mediennutzung belogen hat. Kennst du das vielleicht?

Herzlich willkommen zum Podcast „Mediensucht verstehen“, dem Podcast der Hessischen Landestelle für Suchtfragen, gefördert durch die Techniker Krankenkasse in Hessen. Mein Name ist Saskia und mit mir hier im Studio ist Kai Müller, unser Experte zum Thema Mediensucht. Herzlich willkommen Kai.

Kai Müller: Danke Saskia. Schön, hier zu sein.

Saskia Rößner: Wir haben uns in dieser Staffel schon ganz viel darüber unterhalten, woran man Mediensucht überhaupt erkennt. In der ersten Folge hast du uns eine Liste von Kriterien vorgestellt, und seitdem gucken wir uns in jeder Folge ein Kriterium genauer an. Heute beschäftigen wir uns mit dem Kriterium Unehrlichkeit oder Lügen.

Lügen kenne ich und weiß auch, was das bedeutet. Mache ich manchmal auch — nur kleine Notlügen natürlich. Wenn ich mich zum Beispiel von einer Party stehlen will, behaupte ich immer, ich muss dringend noch meinen Hamster füttern. Aber was bedeutet Lügen denn bei Mediensucht? Wen lüge ich dabei an und über was lüge ich?

Bildschirmzeit verheimlichen oder kleinreden

Kai Müller: Genau das ist der wichtige Punkt, dass es nicht um das Gesamtthema Lügen und Unehrlichkeit geht, sondern eher darum, dass man in Bezug auf das eigene Nutzungsverhalten wichtige andere Leute entweder im Unklaren lässt oder sogar bewusst Dinge verschweigt. Wie viel sitze ich eigentlich am Bildschirm? Wie viel game ich eigentlich am Tag? Oder wie viel Zeit verbringe ich auf Social Media, in sozialen Netzwerken oder mit Onlinepornographie — wobei das noch mal ein spezielleres Thema ist.

Beim Gaming kann das bedeuten, dass man sagt, dass man nur ab und an spielt, obwohl man neun Stunden am Tag zockt. Bei sozialen Netzwerken, das kenne ich aus meiner Praxis, sagen weibliche Betroffene, dass sie selbstverständlich zum Beispiel Instagram, Facebook oder TikTok haben, aber da nur ab und zu mal drauf gucken. Wenn man sich aber genauer anguckt, wie das Nutzungsverhalten ist, ist es nicht ab und an mal draufgucken, sondern wirklich ständig dran hängen bleiben.

Deine intensive Mediennutzung ist dir peinlich

Kai Müller: Das Kriterium ist einerseits wichtig, andererseits ein bisschen schwierig. Wichtig ist es deswegen, weil — das kennen wir von anderen Suchterkrankungen und Substanzabhängigkeit, also Alkoholabhängigkeit, Cannabisabhängigkeit, Kokain usw. — die Betroffenen das unbestimmte Gefühl haben, das für sich behalten zu müssen, weil es ihnen peinlich ist, wenn andere das mitkriegen. Oder peinlich, weil sie schon wissen, dass es zu viel ist, was sie konsumieren und weil sie die Befürchtung haben, man wird jetzt irgendwie von anderen Leuten entdeckt. Das gleiche wie bei der Medienabhängigkeit oder Mediensucht haben wir auch bei der Glücksspielsucht.

Schwierig ist das Kriterium deswegen, weil es natürlich auch ein paar Tücken, ein paar Schwierigkeiten mitbringt.

Saskia Rößner: Welche sind das?

Kai Müller: Zum Beispiel, wenn man darüber nachdenkt, dass gerade Jugendliche und junge Erwachsene ihren Eltern früher auch schon Vieles verheimlicht haben.

Saskia Rößner: Zum Thema, man geht schlafen und liest unter der Bettdecke mit Taschenlampe trotzdem weiter.

Kai Müller: Das fällt jedem sofort ein. Genau.

Saskia Rößner: Da kann ich mich auch noch dran erinnern.

Du traust Dich nicht, ehrlich zu sein

Kai Müller: Ja, das ist sozusagen der Klassiker, und das waren in der Regel auch keine lesesüchtigen Personen. Wir haben in der letzten Folge über den Generationenkonflikt gesprochen. Man hat ja auch ein bisschen ein Gespür dafür, was meine Eltern, mein Partner oder meine Partnerin oder wer auch immer nicht so toll finden. Dann neigt man natürlich dazu, zu sagen „Nein, heute habe ich meine Lieblingsserie noch gar nicht geguckt“.

Von daher ist das Kriterium ein bisschen schwierig. Am besten kann man es wirklich dahingehend interpretieren, dass man sagt, wenn man das Gefühl hat, man kann anderen Leuten wirklich nicht sagen, wie groß der Konsum eigentlich ausfällt, dann ist das Kriterium erfüllt. Dann würde ich raten, über den Konsum mindestens mal nachzudenken.

Wenn man das Gefühl hat, man macht das deswegen, weil der Partner oder die Partnerin oder die Familie nichts mit dem Thema — zum Beispiel Ballerspielen — anfangen kann, ist es was anderes.

Saskia Rößner: Okay, also wenn ich Angst habe, ehrlich zu sein darüber, welche Medien ich nutze, wie viel Medien ich nutze, wie oft und auch in welchen Situationen. Wenn ich das Gefühl habe, das kann ich niemandem erzählen, weil das komisch rüberkommt und ich da direkt irgendwie beschimpft werde oder mir direkt unterstellt wird, dass ich mediensüchtig bin, obwohl ich es vielleicht nicht sein möchte – ich glaube, die wenigsten möchten das tatsächlich sein -, dann sollte ich schon mal aufhorchen.

Kai Müller: Ja, im Grunde schon.

Mediennutzung: Selbst deinen engsten Vertrauten gegenüber bist du unehrlich

Saskia Rößner: Du hast eben von wichtigen Personen gesprochen, also Unehrlichkeit oder Lügen gegenüber wichtigen Personen. Ein paar Leute hast du jetzt schon genannt, Partnerin, Partner, Familie. Wer fällt dann da sonst noch so drunter?

Kai Müller: Beste Freund*innen und sehr gute Sozialkontakte. Also nicht nur beste Freund*innen, auch gute Freund*innen. Generell das soziale Umfeld, mit dem man viel zu tun hat. Also ein erweiterter Freundeskreis.

Saskia Rößner: Und wie sieht es mit Schule oder Arbeitsplatz aus?

Kai Müller: Da wird es wieder schwierig mit dem Kriterium, weil es ja logisch ist, dass man das dem Lehrer oder der Lehrerin nicht unbedingt auf die Nase bindet. „Übrigens, ich habe gestern wieder neun Stunden World of Warcraft gezockt und dafür die Mathe-Hausaufgaben nicht oder nur so halb gemacht“. Da muss man dann schon ein bisschen abwägen. Es geht wirklich darum, dass man Personen des Vertrauens  – und das kann natürlich auch der Mathelehrer oder der Mathelehrerin sein – bewusst im Unklaren lässt, dass man ihnen bewusst verschleiert, verheimlicht oder sogar offensiv belügt, was den eigenen Konsum betrifft.

Saskia Rößner: Wie sieht es mit Ärztinnen und Therapeutinnen aus? Weil das eigentlich auch Vertrauenspersonen sind bzw. sein sollten. Wie sieht es da aus, wenn mich jetzt mein Arzt beispielsweise fragt „Hey, wie sieht es denn generell so aus? Wie geht es Ihnen so? Ach, in letzter Zeit geht es Ihnen irgendwie nicht so gut. Wie sieht es denn mit der Mediennutzung aus?“

Kai Müller: Per Definition sind sie schon Vertrauenspersonen, aber es geht darum, ob man zu den Leuten, die man bewusst belügt oder gegenüber denen man was verschleiert, wirklich eine Beziehung oder eine Bindung hat. Und beim Hausarzt oder Hausärztin, egal wie professionell der oder diejenige sein mag, hat man in der Regel keine wirklich enge soziale Bindung.

Saskia Rößner: Je gesünder man ist, desto seltener muss man hingehen.

Kai Müller: Aber auch wenn man ein bisschen kränker ist und öfters hin muss, dann baut man auch nicht so eine Bindung auf.

Saskia Rößner: Das ist eher ein professionelles Verhältnis.

Kai Müller: Ja, also Vertrauensperson würde ich auf jeden Fall so stehen lassen und abhaken, trifft in dem Fall in Bezug auf das Kriterium nur nicht zu. Da geht es wirklich um enge Vertraute.

Saskia Rößner: Okay, also um den engsten Kreis, den ich vielleicht auch zu meiner Geburtstagsparty einladen würde.

Kai Müller: Zum Beispiel, und da kann ja auch der Mathelehrer oder die Mathelehrerin – ich will jetzt kein Lehrer:innen-Bashing machen – durchaus dazuzählen oder der Deutschlehrer, die Deutschlehrerin oder der Judotrainer oder Trainerin, von mir aus auch der Hausarzt. Aber so per se vom Grundsatz her geht es um den Inner Circle.

Tabuthema Pornografie: Lügen erlaubt

Saskia Rößner: Gerade Pornografie ist ein großes Thema bei den Mediensüchten. Es wird in unserer Gesellschaft sehr stark tabuisiert und in eine Schmuddelecke gestellt. Da sagen wahrscheinlich die wenigsten ehrlich und frei heraus, dass sie das mindestens dreimal die Woche oder jeden Abend konsumieren. Da wird man wahrscheinlich häufiger mal schummeln oder unehrlich sein. Wie kann ich da die Grenze ziehen?

Kai Müller: Gar nicht. Bei dem Störungsbild der Mediensucht gar nicht, weil es — wie du genau richtig gesagt hast — tabuisiert ist. Da ist es sowieso so, dass die meisten Leute nicht darauf hinweisen werden, dass sie zum Beispiel jeden Abend eine halbe Stunde Pornos online konsumieren. Aber das ist dann nicht im Sinne eines Krankheitsbildes. Dass die Leute von vornherein sagen, sie konsumieren es nicht, hat eher gesellschaftliche Hintergründe.

Saskia Rößner: Das heißt, wenn ich mir Sorgen mache, dass ich selbst oder eine Person in meinem näheren Umfeld vielleicht eine Pornosucht entwickelt oder schon entwickelt hat, dann wäre das ein Kriterium, was ich mir lieber nicht angucke, sondern lieber ein anderes. Es sind ja insgesamt neun. Lest oder schaut in dem Fall bitte einfach in die anderen Folgen rein.

Kai Müller: Gut zusammengefasst.

Wichtig: Warum lüge ich?

Saskia Rößner: Wie stehst du zu Notlügen? Wenn wir beim Thema Mediensucht bleiben, gucken wir uns mal Zocken und Social Media an. Gibt es da Notlügen, wo du sagst, die sind harmlos, kommt vor und da muss man sich keine Gedanken machen?

Kai Müller: Ja, natürlich gehören Notlügen ein bisschen zum Leben dazu, ohne mich jetzt irgendwie in eine philosophische Debatte zu verstricken. Also warum auch nicht? Ich glaube das Wichtige bei dem Kriterium ist, warum ich denn jetzt eigentlich lüge. Warum verschweige ich dem anderen, dass ich doch wieder sechs Stunden im Game drinnen war, oder doch heute wieder vier, sechs oder acht Stunden mit Social Media verbracht habe? Oder ich sehe meinen Wochenbericht und mein Partner, meine Partnerin fragt mich danach und ich sehe da fünf Stunden mehr als letzte Woche oder so und ich sage dann „nur eine Minute mehr, weil ich letztens nicht gut einschlafen konnte“.

Saskia Rößner: Abends drei Stunden Podcast hören zum Einschlafen zum Beispiel.

Kai Müller: Zum Beispiel. Ich glaube das wichtige ist, dass man wirklich in sich hineinhorcht. Deswegen hatte ich eingangs gemeint, dass das Kriterium ein bisschen mit Vorsicht zu genießen ist. Warum will ich denn nicht, dass wirklich enge Bezugspersonen nicht genau Bescheid wissen? Woran liegt das? Liegt es daran, weil ich weiß, die sind grundsätzlich gegen Bildschirm-Medienkonsum eingestellt?

Saskia Rößner: Die Oma zum Beispiel.

Kai Müller: Darauf wollte ich hinaus, weil es ja schon so ein Running Gag bei uns ist. Genau, meine Großmutter würde auch fragen, was das denn genau soll. Die Frage ist, mach ich es, weil ich so ein anderes, tiefer liegendes Gefühl habe. Wenn sich das schon nicht mehr so ganz richtig anfühlt und wenn der andere das dann noch mitkriegt, wird es ja noch mal offensiver und offensichtlicher.

Saskia Rößner: Also geht es weniger darum, dass oder ob ich mal lüge, sondern eher um die Motivation dahinter und vor allem die Angst davor, entdeckt zu werden oder dass etwas entdeckt wird wie zum Beispiel eine Mediensucht.

Kai Müller: Zum Beispiel.

Tipp zur Selbsthilfe: Ehrlich zu sich selbst sein

Saskia Rößner: Wenn es da draußen Hörerinnen und Hörer gibt, die jetzt denken „ehrlich gesagt lüge ich schon mal über meine Bildschirmzeit, weil mir das auch ein bisschen peinlich ist, wie viel Zeit ich jetzt eigentlich wirklich damit verbringe“. Hast du einen Tipp für sie, wie sie gegensteuern können?

Kai Müller: Da würde ich auch wieder dazu raten, erst mal in sich zu gehen und zu überlegen, warum man die Motivation hat, die anderen hinters Licht zu führen? Warum mache ich das eigentlich? Dann kann man fragen, woran es eigentlich liegt. Liegt das daran, dass die anderen Bildschirmmedien generell nicht mögen oder habe ich das Gefühl, ich bin wirklich weit drüber? Dann sollte man tatsächlich auch ins Gespräch gehen.

Also dass man dann wirklich sagt, „Du hast mich gestern so nebenher gefragt, wie lange ich die letzte Woche meine Games gespielt habe und da habe ich geantwortet, letzte Woche an zwei, drei Tagen mal ganz kurz, aber da war ich nicht so ganz ehrlich zu dir. Das waren dann schon jeden Tag mindestens drei Stunden“. Und dann kann man gucken, was passiert und wie der andere darauf reagiert. Das ist ja auch immer interessant. Weil, das kennen wir von anderen Suchterkrankungen, je mehr verschleiert, verheimlicht und hinterm Berg gehalten wird, desto stärker ist die Stressanspannung für die Betroffenen.

Saskia Rößner: Das heißt sie lügen zwar, haben in dem Moment aber trotzdem eine kleine Erleichterung, weil sie sich vielleicht erfolgreich aus der Situation heraus gestohlen haben. Nichtsdestotrotz haben sie dann ein schlechtes Gewissen, weil sie wissen, dass sie eigentlich etwas falsch gemacht haben. Vielleicht sogar im doppelten Sinne. Sie spielen mehr, als sie eigentlich wollen, und lügen auch noch. Und das Lügen stresst sie nachhaltig. Damit haben sie überhaupt nichts gewonnen.

Ehrlichkeit als Schutzfaktor vor Mediensucht

Kai Müller: Ne Null — im Gegenteil sogar. Dadurch wird natürlich auch noch mal der Drang stärker, den Konsum, das Nutzungsverhalten, dieses schlechte Gefühl wegzuspielen oder wegzuscrollen oder wegzusurfen. Dieses dauerhafte Stresspaket hält für alle Abhängigkeitserkrankungen das Suchtverhalten am Leben. Deswegen ist mein Tipp bei diesem Kriterium, sich einfach erst mal zu hinterfragen: Warum mache ich das überhaupt? Und dass man zweitens versucht, ehrlich zu sein — zumindest punktuell.

Saskia Rößner: Also Bildschirmzeit messen und im Auge behalten, gar nicht erst anfangen zu lügen, Probleme nicht kleinreden und meine Mitmenschen ernst nehmen, wenn die sich wirklich Sorgen um mich machen.

Kai Müller: Absolut. Und die Mitmenschen wirklich einweihen. Wenn man die lange belogen oder es vor ihnen verheimlicht hat, sich wirklich Mut fassen und sagen, dass es im letzten Monat doch nicht so wenig war. Reinen Tisch machen.

Saskia Rößner: Ja, super, vielen lieben Dank für die Tipps, Kai.

Mehr Tipps und Hilfe bei Mediensucht

Wenn ihr mehr Tipps zur Selbsthilfe braucht, dann guckt doch einfach mal auf unserer Website vorbei. Dort findet ihr außerdem noch professionelle Hilfsangebote, wie zum Beispiel Beratungsstellen und deren Kontaktadressen.

Wenn ihr Fragen an unseren Experten Kai habt, könnt ihr sie live an Kai stellen, denn er wird euch in einem Online-Live-Format am 9. Dezember 2025 Rede und Antwort stehen.

Nächste Woche werden wir uns mit dem nächsten Kriterium beschäftigen. Das ist die Gefühlsregulierung. Wir gehen nochmal weg von der Sprache und hin zu den Gefühlen — ganz, ganz wichtig.

Bis dahin abonniert bitte unseren Podcast, damit ihr die nächste Folge nicht verpasst, lasst uns ein paar Sterne da und teilt diese Folge auch gerne mit Leuten, die ihr in der heutigen Folge wiedererkannt habt und wo ihr die Hoffnung habt oder der Meinung seid, dass diese Person Hilfe braucht. Danke Und bis nächste Woche.


Digitale Sprechstunde mit Kai Müller:

Link zur Sprechstunde am 9. Dezember 2025

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Screenshot von Kai Müller aus dem Podcast Mediensucht verstehen Mediensucht erkennen: Medien nutzen, um Gefühle zu verdrängen (S01E09) Screenshot von Kai Müller aus dem Podcast Mediensucht verstehen Mediensucht erkennen: Medien nutzen, obwohl sie dir nicht guttun (S01E07)
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