Blog

Screenshot von Kai Müller aus dem Podcast Mediensucht verstehen

Mediensucht erkennen: Sich ohne Medien schlecht fühlen (S01E03)

24 September 2025

Information: Das hier ist das Transkript zu einer Podcastfolge. Wenn du die Podcastfolge stattdessen lieber anhören oder ansehen möchtest, findest du die Links dazu am Ende des Textes.

Saskia Rößner: Woran erkennt man eigentlich Mediensucht? In dieser Folge gucken wir uns das Kriterium Entzugserscheinungen an. Ich kann mir so ungefähr vorstellen, was man darunter versteht. Kai, aber du bist unser Experte für Mediensucht. Erklär es mir doch bitte genau.

Kai Müller: Ja, da können sich ja die meisten Leute was drunter vorstellen, unter diesem Schlagwort Entzug bei Suchterkrankung. Um erstmal ein bisschen anders anzufangen: Wichtig ist, dass man, wenn man bei sich selbst einen Verdacht hat, eine Internet- oder eine Mediensucht zu haben, guckt, ob man unter Entzugserscheinungen leidet. Dabei sollte man nicht so hollywoodmäßig darauf reinfallen und denken, dass sich die Entzugserscheinungen so darstellen wie zum Beispiel bei einem schlimmen Alkoholentzug oder Heroinentzug. Das hat nichts mit Krampfanfällen oder Delirium oder sonstigen krassen körperlichen Ausfallerscheinungen zu tun.

Also bei Internetsüchten und bei Verhaltenssüchten insgesamt äußern sich Entzugserscheinungen dahingehend, dass wenn der Konsum verhindert ist oder nicht in einem Ausmaß möglich ist, wie man den normalerweise gewohnt ist, dass die Betroffenen sich untypisch verhalten, sich auch gar nicht mehr so fühlen, wie sie es selbst von sich kennen. Es zeigt sich auch bei uns in der Behandlung, dass die Betroffenen sehr reizbar sind, dass die wahnsinnig unruhig sind, dass die Personen so ein inneres Drängen haben – das Gefühl „Ich muss jetzt aber doch konsumieren, warum geht das jetzt nicht?“ Und sich auf gar nichts anderes einlassen können – gedanklich, emotional, verhaltensbezogen. Das ist der wichtige Punkt bei Entzugserscheinungen bei Internetsüchten, dass die Betroffenen einfach nicht mehr so ticken, wie sie normalerweise ticken.

Einen Medien-Kater gibt es nicht

Saskia Rößner: Okay, das heißt, man merkt schon eine Veränderung im Verhalten und es ist jetzt nicht wie bei einer Alkoholabhängigkeit. Wenn ich jetzt so an Alkohol und Entzugserscheinungen denke, da denke ich an einen Kater. Den kennt, glaube ich, jeder. Aber bei einer richtigen Alkoholabhängigkeit wäre es ja so, dass man dann so ein Zittern entwickelt, oder? Oder eine permanente Übelkeit und das kriegt man verständlicherweise nicht bei Mediensüchten, weil wir ja keine Stoffe zu uns nehmen, die dann entgiftet werden müssen, sondern da lest ihr das als Expert:innen, als Behandler:innen, hauptsächlich von der veränderten Verhaltensweise ab.

Kai Müller: Ja, von dem veränderten, psychischen Zustand. Wenn sich die Betroffenen zum Teil auch gar nicht auf andere Sachen konzentrieren können, sie gar nicht so bezogen sind im Gespräch, weil einfach intra-psychisch so viel los ist, weil der Konsum nicht mehr möglich ist. Das ganze psychische System ist dann außer Rand und Band. So kann man das bezeichnen. Und was du gesagt hast mit dem Zittern, das haben wir zum Glück nicht bei Entzug bei Internetsucht, aber diese motorische Unruhe, also so ein Bewegungsdrang, das Gefühl zu haben, irgendwas fehlt jetzt grade, das haben wir schon. Das gibt es durchaus.

Saskia Rößner: Aus der inneren Unruhe heraus, die sich dann körperlich entlädt?

Kai Müller: Ja, genau.

Ein einzelner Ausraster bedeutet noch keine Mediensucht

Saskia Rößner: Was mir als erstes sofort eingefallen ist: Wenn ich Aktionstage mache, kommen ganz viele Eltern zu mir, die sagen „Mensch, mein Sohn, meine Tochter, mein Kind, mit dem will ich zusammen zu Abend essen, das Essen ist fertig und es kommt und kommt nicht, und irgendwann schalte ich die Spielekonsole aus und dann ist Tohuwabohu“. Dann gibt’s die krassesten Ausraster. Ist das so ein Zeichen? Würdest du das als Entzugssymptom sehen?

Kai Müller: Das ist eine momentane Entzugsentladung, so würde ich’s nennen, zumindest, wenn es wirklich wiederholt vorkommt. Es gibt ja auch ein Gegenbeispiel. Wenn wir uns mit etwas beschäftigen, was uns gerade sehr fasziniert und jetzt kommt ein Freund, eine Freundin oder Mama, Papa oder so, und die sagen „So, jetzt reicht’s aber auch mit dem Puzzlespiel, wir wollen jetzt essen“, da ist man auch nicht glücklich drüber, wenn man total versunken ist. Oder wenn man ein Buch liest und gerade an einer Stelle ist, wo man sagt „Oh, total cool gerade. Oh, wie geht’s weiter?“, und dann, auch wenn es das Lieblingsessen gibt, ist man nicht gerade hellauf begeistert, dass man zum Essen abkommandiert wird.

Von daher kann es durchaus auch im normalen Spektrum, also in normalen Verhaltensweisen, vorkommen. Aber wenn man merkt, dass es einen grundsätzlich stört, wenn man im Konsumverhalten irgendwie gestört wird, dass es einen aus der Bahn wirft, irritiert oder wütend macht, wenn man anders reagiert, als man es sonst von sich kennt – gegenüber den Leuten, die da gerade stören – dann wären wir schon eher im Bereich Entzugserscheinungen.  Vor allem, wenn es häufig oder permanent vorkommt.

Saskia Rößner: Also, wenn es mal passiert, ist es okay, aber wenn es zum Dauerzustand wird, dann könnte es kritisch sein.

Kai Müller: Ja genau, einmal das und vor allen Dingen, wenn man merkt, man reagiert so, wie man es nicht von sich kennt. Zum Beispiel super aggressiv, super reizbar, übertrieben, wenn man es von der Grundpersönlichkeit her eigentlich gar nicht ist. Dann wird es Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

Vorsicht bei Reizbarkeit, Unruhe, Unsicherheit

Saskia Rößner: Wir haben jetzt ganz viel über das Thema Zocken gesprochen. Wie sieht es denn bei Social Media oder Pornografie aus?

Kai Müller: Das ist im Grunde das gleiche in Grün, nur dass es punktuelle Unterschiede gibt. Aber auch hier bleiben die Symptome gleich: Reizbarkeit, Unruhe, Unsicherheit, motorische Unruhe. Bei der Social Media Abhängigkeit bezieht man sich häufig auf die Verfügbarkeit des Handys, weil eben der meiste Konsum darüber stattfindet. Horrorvorstellung: Ich bin irgendwo unterwegs und der Akku gibt den Geist auf und man kann nicht mehr drauf zugreifen oder – was bei Betroffenen in der Regel aber nicht passiert – man vergisst das Handy zu Hause. Das passiert aber wie gesagt in der Regel nicht, weil es neben dem Schlüssel und dem Geldbeutel das wichtigste ist, was eingepackt wird. Von daher ist das Beispiel ein bisschen weltfremd.

Bei der Pornografie ist es das gleiche. Bei den Betroffenen einer Online-Pornografie-Nutzungsstörung (Pornosucht) ist es so, dass sie oft fixe Zeitspannen haben, wo sie wissen, jetzt kann ich in den Konsum gehen. Beispielsweise morgens, bevor ich in die Uni gehe oder zur Arbeit gehe oder in der Mittagspause.

Saskia Rößner: In der Mittagspause?

Kai Müller: Ja klar, natürlich. Und nach Feierabend. Sollte das aus irgendeinem Grund nicht möglich sein, aus welchem auch immer, treten natürlich auch aversive Erscheinungen auf. Aversive, das heißt, Reizbarkeit, innere Unruhe und so weiter.

Saskia Rößner: Okay, stelle ich mir schon ziemlich unangenehm vor. Vor allem auch als Betroffene, weil man ja nicht einfach mal chillen kann und der Uni oder dem Job nachgehen kann, sondern man scheint ständig irgendwie so ein Kribbeln zu haben.

Mediensucht-Entzugserscheinungen:
Noch kribbelig oder schon aggressiv?

Kai Müller: Ständiges Kribbeln – das ist genau das, was wir in der letzten Folge mit der gedanklichen Eingenommenheit hatten. Das geht Hand in Hand mit den Entzugserscheinungen. Bei der Eingenommenheit ist es, dass der Konsum jederzeit möglich ist. Bei den Entzugserscheinungen ist die Grundfrage, was passiert, wenn der Konsum nicht so möglich ist, wie ich das normalerweise gewohnt bin? Und was passiert dann mit mir? Dann passieren eben diese Ausraster, die Irritationen und die Reizbarkeit, und auch durchaus die Aggression.

Saskia Rößner: Jetzt muss ich allerdings zugeben, wenn ich mein Handy zu Hause vergesse – und mir passiert es tatsächlich noch – macht es mich schon auch nervös. Bin ich da jetzt schon in der Risikogruppe, oder wo ist da die Grenze?

Nervös, wenn das Handy zuhause vergessen wurde?

Kai Müller: Also ich würde nicht sagen, dass das schon ein krasser Risikofaktor ist. Mich macht das auch nervös, weil ich denke, wenn mich jemand erreichen möchte und da irgendwas Dringendes ist, dann habe ich keine Chance ranzugehen. Was ja irgendwie auch ein bisschen irre ist, weil die Welt früher auch ohne diese ständige Erreichbarkeit funktionierte. Aber das hat man halt so gelernt. Bei mir kommt dazu, dass das Handy mittlerweile auch die Uhr ist und Uhrzeit schon auch was sehr Wichtiges. Für manche mehr, manche weniger – für mich mehr. Das löst natürlich dann auch schon so eine Art innere Anspannung aus.

Aber ich glaube, ein großer Unterschied ist: Nehmen wir mal an, du hast dein Handy zu Hause vergessen und denkst dran „Oh Mist“. Dann ist die Frage: Unternimmst du Anstrengungen, um jetzt noch mal nach Hause zu hetzen und das Handy zu holen? Oder schaffst du es in den nächsten 5 bis 10 oder 15 Minuten zu sagen „Okay, jetzt habe ich das Handy halt nicht bei mir. Die Welt wird davon nicht untergehen“.

Saskia Rößner: Okay, also gehe ich entweder noch mal zurück nach Hause, hol das Handy, riskiere es, den Bus zu verpassen und zu spät zur Arbeit zu kommen, oder sage ich „okay, das ist heute halt mal Digital Detox angesagt und ich werde es irgendwie überleben“.

Kai Müller: Zum Beispiel. Oder, wenn du es tatsächlich schaffst und dem Drang, nach Hause zu gehen und das Handy zu holen, widerstehst, zu gucken, inwieweit dich das dann trotzdem den ganzen restlichen Tag belastet.

Saskia Rößner: Da wären wir dann wieder bei der gedanklichen Vereinnahmung.

Kai Müller: Im Grunde ja.

Saskia Rößner: Wenn ich im Büro sitze und den ganzen Tag meinem Handy hinterher trauere, dann sollte ich mir vielleicht doch Gedanken machen.

Kai Müller: Im Grunde schon. Normalerweise sollte man das dann so akzeptieren und hinnehmen und sagen können, dass es zwar nicht so super ist und man hoffentlich nicht tausend Anrufe mit irgendwelchen Notfällen hat, wenn man nach Hause kommt. Aber wenn man es schafft, sich davon zu distanzieren, ist eigentlich alles in Ordnung.

Saskia Rößner: Ist ja vielleicht auch mal ein ganz interessanter Test, das mal bewusst herbeizuführen und zu gucken, wie man den Tag über so klarkommt.

Digital Detox als Mediensucht-Test und Selbsthilfe-Tipp

Kai Müller: Ja voll. Das ist auch ein guter Tipp – wenn man das Gefühl hat, man hängt so viel am Handy – sich wirklich bewusst Auszeiten zu definieren und zu sagen „Okay, jetzt gehe ich mal – vielleicht nicht drei Tage wandern ohne Handy…

Saskia Rößner: Ich glaube beim Wandern ist es sogar gefährlich. Wenn man im Berg abstürzt oder im Wald verloren geht.

Kai Müller: Muss ja nicht gleich eine Bergtour sein. Man kann ja auch einfach nur wandern. Aber auch dafür sind GPS und die verschiedenen Map-Applikationen ganz sinnvoll. Ich bin auch darauf angewiesen. Es macht schon Sinn, wenn man sagt „Ich geh jetzt ja ein bisschen länger einkaufen oder in die Stadt zum Shoppen“ oder „ich treffe mich mit Leuten“ und weiß aber genau, dass sie auch pünktlich da sind, wo wir uns verabredet haben. Dann kann man auch mal bewusst sagen, dass man das Handy gar nicht braucht. Wenn man sich mal die Frage stellt, „Wenn man sich mit Freunden verabredet, muss man dann auch noch das Handy mitnehmen?“ Entweder man lässt sich auf das Treffen mit den Freunden ein oder man ist noch hier und da beschäftigt.

Saskia Rößner: Vielleicht will ich den Freunden ja was zeigen.

Kai Müller: Man kann es auch erzählen.

Digitale Auszeiten: Klein anfangen und langsam steigern

Saskia Rößner: Man kann‘s auch erzählen, stimmt. Aber du würdest sagen, angenommen ich merke, das ist schon was, was mich nervös macht oder schlechte Laune verursacht, sollte ich das nicht direkt testen oder starten entgegenzuwirken, in dem ich mich einen ganzen Tag von meinem Handy oder von der Spielekonsole, oder von was auch immer, trenne, sondern erst mal langsam anfangen? Zum Beispiel einkaufen gehen im Supermarkt. Das dauert eine halbe Stunde. Oder mal zwei Stunden mit Freunden in einem Café treffen und das dann langsam erhöhen, bis es dann doch mal irgendwann ein ganzer Tag wird oder mal ein Wochenende?

Kai Müller: Ja. Ich würde immer dazu raten, dass man sich Auszeiten definiert. Wenn man zum Beispiel einen Großeinkauf machen muss, das dauert vielleicht eine halbe Stunde oder eine Stunde, bewusst das Handy auf dem Tisch liegen lassen und das Haus verlassen, ohne daran denken zu müssen. Und das dann so ein bisschen steigern und dann irgendwann vielleicht für sich merken, ob man das Smartphone eigentlich die ganze Zeit braucht. Das gleiche gilt auch für Tablet Nutzung, PC Nutzung oder Laptopnutzung. Wann kann ich mal drauf verzichten? Wann lasse ich den Laptop zugeklappt, obwohl ich Feierabend habe und eigentlich meine Lieblingsserie gucken will oder eine Runde mein Game zocken will? Oder von mir aus Pornografie oder was auch immer… Und wann beschäftige ich mich bewusst mit was anderem und wie gut halte ich das auch aus?

Saskia Rößner: Gute Möglichkeit zum Selbstcheck!

Eure Fragen an Kai Müller

Guckt euch für mehr Tipps zur Selbsthilfe gerne auf unserer Website www.webcare.plus um.

Wir werden uns in der nächsten Woche mit dem nächsten Kriterium beschäftigen, nämlich der Toleranzentwicklung.

Und für alle, die Fragen an uns haben, vor allem an unseren Experten an Kai, werden wir am Ende dieser Staffel eine Online Veranstaltung machen, wo ihr alle eure Fragen an Kai stellen könnte. Die findet am 9. Dezember 2025 von 13 bis 15 Uhr statt. Tragt es euch schon mal in den Kalender ein.

Ansonsten kann ich nur sagen, abonniert gerne den Podcast, um keine Folge zu verpassen, lasst uns ein paar Sterne da und wenn ihr jemanden kennt, den ihr heute, in dem was Kai und ich besprochen haben, wiedererkannt habt, dann teilt diese Folge gerne mit der Person. Vielleicht bringt es ja den Anstoß, dass sie sich Hilfe sucht.

Danke fürs Lesen und bis bald.

Kai Müller: Danke! Ciao.


Digitale Sprechstunde mit Kai Müller:

Link zur Sprechstunde am 9. Dezember 2025

Podcast anhören oder ansehen:

Screenshot von Saskia Rößner aus dem Podcast Mediensucht verstehen Mediensucht erkennen: Immer mehr Medien brauchen (S01E04) Screenshot von Saskia Rößner aus dem Podcast Mediensucht verstehen Mediensucht erkennen: Immerzu an Medien denken (S01E02)
Diesen Artikel Teilen auf:
Interessante Beiträge

Du hast Fragen oder Anregungen?

Schreib uns gerne eine Nachricht, wir helfen Dir weiter.