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Screenshot von Kai Müller aus dem Podcast Mediensucht verstehen

Mediensucht erkennen: Es geht nicht um Bildschirmzeit (S01F01)

10 September 2025

Lesezeit 9 Minuten

Information: Das hier ist das Transkript zu einer Podcastfolge. Wenn du die Podcastfolge stattdessen lieber anhören oder ansehen möchtest, findest du die Links dazu am Ende des Textes.

Saskia Rößner: Herzlich willkommen zu unserem Podcast „Mediensucht verstehen” von der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen, gefördert durch die Techniker Krankenkasse in Hessen. Mein Name ist Saskia und heute sitzt mit mir hier Kai Müller, unser Gast, und Mediensucht-Experte. Kai arbeitet und forscht an der Unimedizin Mainz und ist außerdem bis vor kurzem Vorstandsvorsitzender des Fachverbands Medienabhängigkeit gewesen. Du bist aber immer noch Mitglied und in dieser doppelten oder dreifachen Position freue ich mich total, dich heute als Experten hier begrüßen zu dürfen.

Kai Müller: Ja, vielen Dank Saskia. Ich freue mich auch, hier zu sein.

Saskia Rößner: Wir sind heute bei unserer ganz allerersten Folge von der allerersten Staffel. Wir werden uns in der ersten Staffel damit beschäftigen, woran man Mediensucht überhaupt erkennt – also welche Kriterien es da gibt. Ich kann nämlich schon mal vorwegnehmen: Es geht nicht nur um die Bildschirmzeit. Kai, das wirst du uns gleich ganz genau erklären. Wir haben heute eine Folge, wo wir uns erst mal die ganzen Kriterien angucken. Ab der zweiten Folge gucken wir uns dann pro Folge eines dieser Kriterien an und gehen dabei ganz genau ins Detail.

Mediensucht: Wie viele Menschen sind betroffen?

Aber Kai, bevor wir uns die Kriterien angucken… Mediensucht – ich hab überhaupt keine Ahnung, wie viele Leute davon überhaupt betroffen sind. Ich habe das Gefühl, manchmal gehe ich draußen durch die Straße und denk mir, jeder ist heutzutage handysüchtig. Und dann höre ich mal wieder Zahlen, die ganz anderes widerspiegeln. Wie ist denn deine Erfahrung?

Kai Müller: Ja, das geht mir tatsächlich ganz ähnlich, dass man oft denkt, „Oh oh, das ist wirklich pandemisch“, weil die Leute so viel an Bildschirm-Medien hängen – also Handys und Smartphones usw. Zum Glück ist es das nicht. Wir müssen da immer noch abgrenzen zwischen intensiver, freizeitbezogener Mediennutzung und funktionaler Mediennutzung.

Saskia Rößner: Also einfach viel nutzen.

Kai Müller: Ja, dass man halt gerne mal aufs Smartphone guckt. Hab ich heute auch gemacht, als ich den Weg hierher gefunden habe. Da musste ich auch viel aufs Handy gucken.

Saskia Rößner: Ja, gut, dass du‘s gemacht hast, sonst wärst du nicht hier.

Kai Müller: Sonst wäre ich nicht hier, genau. Das ist dann die funktionale Mediennutzung, auch wenn es manchmal ein bisschen zu viel erscheinen mag. Aber wir reden ja beim Thema Mediensucht oder Internetnutzungsstörung wirklich über ein klinisches Krankheitsbild. Und dann wäre es wirklich sehr, sehr schlimm, wenn der Alltagseindruck stimmen würde. Also wir reden in der Gesamtbevölkerung von Betroffenenzahlen zwischen 1 und 2 Prozent. Klingt jetzt wenig, wenn man es aber hochrechnet, ist das schon auch gar nicht mehr so wenig. Gerade unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben wir sogar eine sogenannte Prävalenz von 5 Prozent. Das ist schon ordentlich, also im negativen Sinne ordentlich.

Junge Menschen häufiger von Mediensucht betroffen

Saskia Rößner: Das heißt, bei den jungen Leuten sind scheinbar mehr Leute betroffen, als wenn man sich alle Altersklassen anguckt.

Kai Müller: Genau. Wenn wir die Gesamtbevölkerung betrachten, ist ja sowohl der 11-Jährige als auch die 97-Jährige miteingenommen. Da haben wir natürlich dann geringere Prävalenz-Zahlen, also Betroffenenzahlen. Wenn man nur, sage ich mal, Risikobereiche vom Alter her anguckt, haben wir auf jeden Fall höhere Zahlen. Also ja, Jüngere sind häufiger betroffen.

Saskia Rößner: Okay. Du hast eben schon gesagt, das Erscheinungsbild auf der Straße unterscheidet sich von dem medizinischen Erscheinungsbild. Das heißt, es scheint ja ganz klare medizinische Kriterien zu geben. Die Frage, die ich als Projektkoordinatorin ganz oft gestellt bekomme, ist: Wie viel Bildschirmzeit ist normal? Was sagst du als Experte dazu?

Kai Müller: Ich sage dazu, alles unter vier Stunden ist save und darüber wird’s schwierig. Nein, sag‘ ich nicht. Das war ein Witz. Also an den Bildschirmzeiten kann man es nicht festmachen. Wenn wir uns mal überlegen, dass allein schon die berufliche Bildschirmzeit nicht „un-immens“ ist. Da kommt schon viel zusammen. Und trotzdem würden wir uns beide – als Berufsbezogene – nicht als internetsüchtig bezeichnen, glaube ich.

Saskia Rößner: Ich hoffe es.

Kai Müller: Ich hoffe es auch bei mir. Also an den Bildschirmzeiten kann man das wirklich ganz, ganz schwer festmachen. Natürlich kann man sagen, wenn man zehn Stunden jeden Tag ein Computerspiel zockt, ist das Risiko schon relativ hoch, dass man auch die eigentlichen Kriterien für eine Internetsucht oder in dem Fall eine Computerspielsucht erfüllt. Natürlich, keine Frage. Aber die reinen Nutzungszeiten sind kein anerkanntes Kriterium.

9 Medizinische Kriterien, um Mediensucht zu erkennen

Saskia Rößner: Und was sind dann die anerkannten Kriterien?

Kai Müller: Das sagt uns zum Beispiel die ICD-11, die von der Weltgesundheitsorganisation verfasst ist und einen Katalog darstellt, wo alle möglichen psychischen und körperlichen Erkrankungen definiert sind. Das ist wie ein Nachschlagewerk. Da kann man gucken: Okay, wann reden wir eigentlich von einer Mandelentzündung? Wann reden wir von der Enzephalitis? Wann reden wir von einer Depression und wann reden wir – weil das ein neues Stimmungsbild ist, was jetzt erst aufgenommen wurde – von der Internetsucht oder von der Computerspielsucht? Das ist also ein Katalog, der sozusagen vorgibt, wann es wirklich krankheitsbezogen wird. Also wann wir über eine Störung sprechen, wie man in der Psychologie auch sagt.

Dann gibt es noch das DSM-5. Das ist für uns in Europa – für die Gesundheitsversorgung – nicht so das maßgebliche System, das ist eher die ICD-11. Aber das DSM-5 ist tatsächlich sehr strukturiert und sehr detailliert. Da haben wir aktuell neun Kriterien drin und wenn von denen einige erfüllt sind, würde man sagen, dass hier die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass es sich um eine Internetsucht oder eine Computerspielsucht handelt.

Saskia Rößner: Also neun Kriterien, quasi wie eine Checkliste, die du abgehst, wenn jemand zu dir kommt und sagt: „Hey, ich habe Angst, ich mache mir Sorgen. Bin ich vielleicht mediensüchtig?“ Du würdest mit dieser Person die Checkliste abgehen und gucken, was zutrifft und was nicht, und würdest anhand dessen dann entscheiden?

Faustregel, um Mediensucht zu erkennen:
5 von 9 Kriterien in 12 Monaten

Kai Müller: Was heißt entscheiden. Feststellen. Es ist schon so, dass man die DSM-5 Kriterien in der klinischen Diagnostik heranzieht und guckt, ob was davon erfüllt ist und wenn ja, in welchem Ausmaß – das ist ja auch immer noch mal wichtig, das einzuschätzen – und in welcher Anzahl. Das sind ja neun Kriterien, und wenn davon so fünf erfüllt sind, und zwar klar erfüllt sind, dann würde man sagen, „okay, hier muss man was machen“. Da geht‘s nicht mehr um ein Alltagsverhalten, was vielleicht ein bisschen überschießend ist, sondern hier geht es wirklich um eine Problematik, die bestehen kann oder vermutlich besteht.

Saskia Rößner: Das heißt, es reicht nicht aus, wenn man ein Kriterium erfüllt. Man muss aber auch nicht gleich alle neun erfüllen, um mediensüchtig zu sein.

Kai Müller: Nein, alle neun nicht. Klar gibt es natürlich viele Patientinnen und Patienten, die erfüllen alle neun. Das kenne ich aus meiner klinischen Praxis. Definitiv gibt‘s die. Aber es müssen nicht neun erfüllt sein.

Saskia Rößner: Okay, und müssen die immer erfüllt sein? Oder kann es mal sein, dass es irgendwie den einen Tag so ist und am anderen so, oder eine Woche oder ein paar Monate so und ein paar Monate so?

Kai Müller: Na ja, die müssen nicht unbedingt täglich so ganz klar sein, aber über einen längeren Zeitraum müssen sie mehr oder weniger permanent bestehen. Wir nehmen da immer einen Zeitraum von zwölf Monaten, wobei der gar nicht so schrecklich wichtig ist. Wenn wir sehen, dass die Symptome, die mit den Kriterien einhergehen, schwer genug ausgeprägt sind, dann muss man nicht, wenn nach elf Monaten die Diagnose gestellt werden konnte, noch einen Monat durchhalten, um endlich eine Versorgung in die Wege leiten zu können.

Also man sagt quasi, wenn die Symptome schwer genug ausgeprägt sind, dann reicht das, wenn sie über einen gewissen Zeitraum wirklich beobachtbar sind. Aber wir reden hier nicht über eine Woche oder einen Monat, sondern schon einen längeren Zeitraum. Der Zeitrahmen, der eigentlich so vordefiniert ist, sind zwölf Monate.

Saskia Rößner: Okay. Das heißt, wenn ich wirklich sehr doll leide, dann kriege ich auch früher Hilfe?

Kai Müller: Ja, also hoffentlich! Weil – da kommen wir vielleicht noch drauf zu sprechen – das Hilfesystem und die Hilfestrukturen sind leider immer noch nicht in Hülle und Fülle vorhanden, weil das immer noch ein relativ neues Krankheitsbild ist.

Mediensucht-Kriterien: Gedanken, Gefühle, Kontrolle…

Saskia Rößner: Kai, dann lass uns die neuen Kriterien doch mal angucken. Welche sind das denn überhaupt?

Kai Müller: Ja, die neun Kriterien.

  1. Wenn man sie einfach mal so grob aufzählt, haben wir einmal die gedankliche Eingenommenheit. Das heißt, gedanklich wirklich sehr beschäftigt zu sein, mit dem, was man online macht. Computerspiele, soziale Netzwerke, online Pornografie und so weiter und so fort.
  2. Dann, wie bei allen Suchterkrankungen, haben wir auch die Man fühlt sich unbefriedigt, rastlos, ruhelos, unschön, wenn man nicht nutzen kann.
  3. Dann haben wir noch die sogenannte Toleranzentwicklung, das heißt, der Konsum steigert sich über den Krankheitsverlauf – muss sich steigern – um die gleichen positiven Effekte wieder zu erleben.
  4. Auch ein ganz wichtiger Punkt: der Kontrollverlust. Ich kann selbst nicht mehr entscheiden, wann, wo, wie lange ich nutze und wann ich mal die Finger von der Nutzung weglasse. Das ist nicht mehr so wirklich möglich.
  5. Dann haben wir noch den Interessenverlust oder die Verdrängung von alternativen Interessen. Das heißt, das Nutzungsverhalten schiebt alles andere, was mir früher Freude gemacht hat, zur Seite.
  6. Auch ein ganz wichtiger Punkt, das Nutzungsverhalten wird fortgeführt, obwohl die Betroffenen merken, dass es für sie negative Konsequenzen hat, also negative Folgen. Es tut ihnen eigentlich gar nicht gut. Es tut ihrem Leben nicht gut, es tut dem sozialen Umfeld nicht gut. Trotzdem wird weiter genutzt.
  7. Im gleichen Zusammenhang haben wir auch das Thema, dass der Konsumumfang – also wie viel nutze ich – vor anderen wichtigen Personen verheimlicht Also man lügt, betrügt, verheimlicht, verschleiert, vertuscht, dass man so viel am Handy hängt oder im Computerspiel unterwegs ist.
  8. Dann haben wir noch die sogenannte Emotions- oder Gefühlsregulation. Dabei ist das Nutzungsverhalten nicht mehr so, dass man daraus Spaß zieht, sondern man versucht, damit negative Gefühle weg zu drängen, weg zu schieben, weg zu spielen, weg zu surfen, weg zu konsumieren.
  9. Und das letzte Kriterium ist, dass persönliche Beziehungen und persönliche, wichtige Ziele und Perspektiven durch den fortgeführten Konsum aufs Spiel gesetzt werden.

Das sind die neun Kriterien.

Saskia Rößner: Das ist auch ganz schön viel und ganz schön kompliziert.

Kai Müller: Ja, auf jeden Fall.

Jedes Kriterium bekommt eigene Podcast-Folge

Saskia Rößner: Ich habe mich auch ertappt gefühlt. Ich glaube, bei dem einen oder anderen könnte ich vielleicht auch ein Häkchen machen. Bin mal gespannt, wie diese Staffel mit dir wird und was du mir da in den nächsten Folgen noch genauer erzählen wirst, weil wir ja pro Kriterium eine Folge machen werden. Da werden wir uns bei jedem Kriterium ganz genau angucken, was noch okay ist und wo es problematisch wird. Wir werden auch bei jeder einzelnen Folge ein paar Selbst-Tipps von dir hören, also Tipps zur Selbsthilfe. Da bin ich jetzt schon dankbar für. Vielleicht kann ich das ein oder andere Häkchen dann auch wieder streichen.

Kai Müller: Bestimmt.

Saskia Rößner: Das wäre zumindest mein Ziel.

In der nächsten Folge starten wir natürlich mit Kriterium Nummer eins: Die gedankliche Vereinnahmung. Ich bin gespannt, was du uns da zu erzählen hast. Wir werden ganz am Ende der Staffel mit dir noch ein ganz besonderes Vergnügen haben, nämlich ein Online-Live-Format, eine Art digitale Sprechstunde, ein Mini-Webinar mit kleinem Input und großer Fragerunde, wo dann unsere Zuschauer*innen und Zuhörer*innen alle ihre Fragen an dich stellen dürfen. Das Ganze findet am 9. Dezember 2025 von 13 bis 15 Uhr statt. Notiert es euch gerne in euren Kalendern, falls ihr Interesse habt. Ansonsten freuen wir uns, wenn ihr unseren – jetzt noch ganz jungen, aber hoffentlich für euch genauso spannenden wie für mich – Podcast abonniert, uns Sterne da lasst und den Podcast auch gerne mit Leuten teilt, bei denen ihr vielleicht den Eindruck habt, dass die hier mal reinhören sollten, weil ihr sie vielleicht in den Kriterien wiedererkannt habt, die Kai gerade schon genannt hat.

Ansonsten, wenn ihr mehr über uns erfahren wollt, guckt bei Instagram oder auf unserem YouTube-Kanal vorbei und schaut euch da um. Es gibt uns auch noch auf Facebook und X und falls wir uns da nicht sehen, dann würde ich sagen: Bis zur nächsten Folge. Tschüss!

Kai Müller: Bis dann!


Digitale Sprechstunde mit Kai Müller:

Link zur Sprechstunde am 9. Dezember 2025

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Podcast Mediensucht verstehen startet im September 2025 Podcast "Mediensucht verstehen" startet im September 2025
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